Bajan beobachtete das gegenseitige Abschätzen wachsam. Nadims Erstaunen war echt, das bemerkte er sofort. Erleichterung machte sich in ihm breit. Die Mönche waren noch nicht hier gewesen. Was ihm jedoch wesentlich mehr Sorgen bereitete, war das Treffen heute Abend. Gab es wirklich Neuigkeiten aus Gilda, oder war es vielmehr eine geschickt arrangierte Falle, sein Kundschafternetz zu zerschlagen? Er würde sehr vorsichtig sein müssen, oder sie verlegten den Treffpunkt.
»Du wirst mir einiges erklären müssen, mein Freund«, brachte Nadim schließlich hervor. Er befreite sich mit einem Kopfschütteln aus dem Bann von Altheas Blick.
»Nadim, das sind Phelan, Althan und Leanna.« Wenn die Kinder erstaunt waren, dass Bajan diese Namen wählte, zeigten sie es jedenfalls nicht. »Kinder, das ist Nadim. Wir sind heute bei ihm zu Gast.« Bajan wollte die Zügel seines Pferdes greifen, aber Nadim starrte Phelan begreifend an.
»Der Sohn des Königs?!«
Phelans Gesicht war ausdruckslos. »Nein!« Bajan wandte den Kopf, und die Mädchen zuckten zusammen. »Ich bin der Sohn der Königin. Ich habe keinen Vater mehr!«, presste Phelan hervor. Die ganze Zeit hatte es in ihm gegärt, aber nun war es heraus.
»Bajan, was hat das zu bedeuten?!«, rief Nadim verwirrt.
Bajan packte Phelan beim Arm. »Wir gehen in die Hütte. Kommt!« Er winkte den Mädchen, ihnen zu folgen.
So erstaunt Nadim war, die Versorgung seiner Gäste hatte Vorrang. Hastig beseitigte er einen Teil der beträchtlichen Unordnung, die in der Hütte herrschte, sodass sie sich setzen konnten.
Bajan musterte seinen Freund, der verlegen herumkramte. »Was ist mit deiner Frau geschehen?«, fragte er. Es war deutlich zu sehen, dass hier keine war.
»Oh, die ist in Nador. Ich verbringe die Winter bei ihr und meiner Tochter, aber nach ein paar Monaten wird es mir dort immer zu eng.« Er verzog die Mundwinkel zu einem leichten Lächeln, als er den Kindern etwas zu essen und zu trinken hinstellte.
»Ihr ist es wohl eher zu eng mit dir«, schmunzelte Bajan. Er kannte Nadims Frau, ihn aber auch.
»Das kommt wohl auf dasselbe raus, meinst du nicht?« Er reichte Bajan einen Becher und nahm endlich selbst Platz. Dies war alles Geplänkel, sie wussten es beide. Nadim brannte darauf zu erfahren, was geschehen war.
Anders als vorher überließ es Bajan Phelan, Details über die Vorgänge in der Festung preiszugeben. Er spürte, dass es dem Jungen helfen würde, mit seinem inneren Konflikt fertig zu werden, wenn er selbst entscheiden konnte, inwieweit er Nadim einweihte. Bajan selbst steuerte lediglich die allgemeine Entwicklung im Staat und bei Hofe bei. So blieb denn Nadim in Unkenntnis über Altheas wahre Fähigkeiten und Herkunft, und Bajan erkannte, wie überzeugend die Kinder ihre Umgebung über diese Dinge täuschen konnten. Sie waren Meister der Verstellung geworden, wen wunderte es. Sie trauten niemandem mehr, nach dem Erlebnis mit Leviad schon gar nicht.
Aber Nadim war nicht umsonst Kundschafter. Auch er spürte, dass etwas nicht ganz so war, wie es sein sollte. »Ihr glaubt, ihr werdet verraten? Von uns?«, fragte er misstrauisch.
Bajan hob die Hand. »Ich halte es für ausgeschlossen, dass Jorman in der Lage ist, jetzt schon Botschaften über die Kundschafter auszusenden. Er wird warten, bis die Lage sich beruhigt hat und er etwas von mir hört. Nein, ich glaube, es ist eine Falle. Irgendwo gibt es jemanden, der uns verraten hat, wenn auch unabsichtlich. Nur kennen sie die Mitglieder nicht, sonst hätten sie dich längst geholt.« Er sah, dass Phelan Noemi dichter an sich zog, denn die Kleine hatte zu zittern begonnen. Er lächelte ihr beruhigend zu. »Keine Angst, wir denken uns etwas aus. So einfach machen wir es ihnen nicht!«
Nadim stand entschlossen auf. »Ganz recht! Bajan, ich bin eine Weile weg und sehe mich mal um. Wartet so lange hier. Und keine Angst.« Er zwinkerte Noemi zu, die sich etwas entspannte.
Nach zwei Stunden war Nadim wieder da. Die Kinder schliefen im Innern des Hauses, während Bajan brütend Nadims Platz auf der Veranda eingenommen hatte, die Waffen griffbereit neben sich. An Nadims besorgtem Gesichtsausdruck erkannte Bajan sofort, dass er keine guten Neuigkeiten hatte.
»Es sind Fremde in der Nähe, etwa ein halbes Dutzend«, berichtete er, als er sich dankbar im Schatten niedergelassen hatte. Er wischte sich aufatmend den Schweiß aus der Stirn.
»Woher weißt du das?«, fragte Bajan alarmiert.
»Die Hirten haben es uns berichtet. Niemand entgeht ihnen, bis auf .. nun, euch haben sie nicht entdeckt. Ihr wart schlau, das muss ich schon sagen!«
Erst da wurde Bajan bewusst, wie knapp sie einer Entdeckung entronnen waren. »Wir hatten nur Glück.« Bei diesem Gedanken war ihm gar nicht wohl. »Was habt ihr jetzt vor?«
»Wir warten am vereinbarten Treffpunkt. Aber anstatt in ihre Falle zu tappen, lassen wir sie in unsere laufen. Können wir auf dich zählen? Wir sind nur zu viert.«
Bajan nickte. »Natürlich. Aber was machen wir mit den Kindern?«
»Ich kann auch kämpfen«, sagte da Phelan und stieß die Tür auf.
Die Männer fuhren herum. »Das glaube ich gerne!«, rief Nadim. Er lachte. Phelan presste die Lippen zusammen. Es tat weh, nicht für voll genommen zu werden, aber er ließ sich nicht beirren.
Bajan bedeutete Nadim mit einem Kopfschütteln, von dem Jungen abzulassen. Er hatte eine andere Aufgabe für ihn. »Phelan, gegen einen voll bewaffneten Soldaten bist du machtlos. Nein, das ist zu gefährlich. Du musst dich um die beiden .. anderen kümmern. Du bleibst mit ihnen außer Sichtweite bei den Pferden. Wenn es gefährlich wird, führst du sie in den Busch und versteckst dich mit ihnen, verstanden?« Bajans Ton erlaubte keinen Widerspruch. Phelan nickte.
Nadim war Bajans Zögern nicht entgangen. Was hatte er sagen wollen? Und warum sollte der Prinz sich um einen scheinbar gleichaltrigen, wenn auch sehr merkwürdigen Jungen kümmern? Er wusste sich keinen Reim darauf zu machen.
Die Anordnung des Fürsten wurde widerspruchslos befolgt. Als es dunkel wurde, warteten die Kinder in einer geschützten Stelle des Busches, während sich die beiden Männer an den Versammlungsort heranpirschten.
Phelan war nervös. Er hatte sich weit vorgewagt und prompt eine Aufgabe übertragen bekommen, der er sich kaum gewachsen fühlte. Was, wenn die Männer scheiterten? Er spürte Altheas beruhigenden Händedruck. Wie immer merkte sie, dass ihn etwas bedrückte. Phelan atmete tief durch, umklammerte seinen Bogen fester und lauschte in die Nacht.
Sie hörten nichts. Selbst die nachtaktiven Tiere schwiegen, eine unheimliche Stille senkte sich über den Busch. Unruhig drehten sich die Ohren der Pferde. Noemi drängte sich dicht an Phelan und Althea. Sie konnte die Spannung spüren, die in der Luft lag.
Plötzlich ertönte ein lauter Schrei. Kampfgeräusche drangen zu ihnen. Altheas Hand zitterte, als sie Noemi im schwachen Licht des Mondes übersetzte, was sie hörte.
Phelan spähte aufmerksam in die Dunkelheit, alle Sinne auf die weit entfernten Geräusche gerichtet. Da packte er plötzlich Altheas Hand. Sein Arm schnellte nach vorne. Er hatte eine Bewegung zwischen den Büschen ausgemacht. Die Kinder standen wie erstarrt und versuchten, etwas zu erkennen.
Phelan ging ganz langsam in die Hocke und die beiden Mädchen mit ihm. Da war sie wieder, eine dunkle Gestalt, die sich durch die Büsche auf die Kampfgeräusche zu bewegte. Mit angehaltenem Atem sahen die Kinder zu, wie sie sich langsam von ihnen entfernte. Althea fühlte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Kroch da unsichtbare Kälte auf sie zu? Dies war keiner der Männer Bajans! Die Gestalt winkelte den Arm an und zog ganz langsam ein Schwert heraus. Es war sehr lang, und ein eigentümliches Gleißen ging von ihm aus.
Althea zuckte zusammen. ›Ein saranisches Schwert!‹ Die Worte verkamen zu einer fast fließenden Bewegung, so schnell zeigte sie sie.
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