Dann passierte es. Das, was ich zuvor bereits annahm. Die wertvollen Gläser mit dem billigen Fusel, dass uns als Champagner verkauft wurde, fielen unter einem betörenden Klirren auf den Boden. Der edle Schaumwein, der zuvor in den Gläsern prickelte, verteilte sich auf dem Boden und spritzte die anderen Gäste an, die erschreckt zurückwichen. Dann halte ein heftiger Knall durch die Gegend.
Damit hatte ich nicht gerechnet. Sophie überraschte mich in diesem Moment. Kaum waren die Kristallgläser auf den Boden gerast, in Tausende Kleinteile zerborsten, da schellte ihr kleiner, zärtlicher und dünner Arm mit einer ungeheuren Wucht gegen die Wange eines älteren Mannes, der sogleich einen völlig verwirrten und aufgeschreckten Blick aufsetzte.
Alles wurde ruhig. Die geselligen Gespräche endeten abrupt. Jeder blickte zu dieser entzückenden jungen Frau, dessen Zopf wild hin und her wedelte und dessen Blick zorniger und doch auch verletzlicher in diesem Augenblick nicht hätten sein können.
Bevor irgendjemand etwas sagen konnte, lief sie in den Hinterraum und knallte die Tür zu. Vermutlich der Umkleideraum. Zurück blieb der alte Mann, der sich keiner Schuld bewusst war und lauthals, beleidigend über das junge Mädchen herfiel.
Aufgeregt, besorgt und angespannt kam der Künstler zu ihm und schaute uns alle hektisch an. Mit wenigen Worten beruhigte er die Situation, worauf die geselligen Gespräche von neuem begannen. Während zwei anderer Helfer die Scherben auffegten, verschwand er leise und bedächtig in dem hinteren Raum.
Es vergingen nur wenige Minuten, bis Sophie eiligen Schritts herauskam und mit großer Mühe ihre kleinen Tränen verbarg. Sie schaute zu Boden. Ihr Gesicht war rot und sie wäre vermutlich am liebsten im Boden versunken. Mit einem kräftigen Ruck nahm sie ihren Mantel und rannte dann raus in den strömenden Regen.
Noch als die Tür zufiel, sah ich ihr Handy, das fast im gleichen Moment von allen anderen unbemerkt zu Boden klatschte. Dieser kleine Zwischenfall war der Auslöser einer großen, wenngleich auch nur kurzen und harten Liaison.
Nach einem kurzen Zögern ergriff ich das Handy, das den harten Aufprall auf den Boden nicht ohne Schaden überlebte. Hals über Kopf, völlig unüberlegt, verließ ich den Laden. Ich stand da mit meinem blauen Anzug, der nun vom strömenden Regen in einen nassen, schweren Lappen verwandelt wurde, während im Laden Mantel und Regenschirm hingen. Aber das war mir egal. Ich blickte mich hektisch um, wischte mir die Regentropfen vom Gesicht und suchte nach ihr. Bis ich einen kleinen Schatten, nur ein paar Meter entfernt von mir, in einer kleinen, dunklen Gasse verschwinden sah. Ich stapfte wagemutig durch die großen Pfützen, bis ich selbst dann in dieser dunklen Nebenstraße stand. Der Regen prasselte laut auf den Boden, die Mülltonnen, die sich in dieser Gasse stapelten, ließen wenig Luft zum Atmen.
Doch da war sie und mein Atem stockte. Sie stand einfach nur da. Die Hände an der Wand, die Haare und die Kleidung vollkommen durchnässt. Sie weinte, der Regen verwandelte ihre Tränen zu einer Flut aus Wellen.
Als sie mich plötzlich sah, erschrak sie nicht, sie sah mich einfach an. Einen so traurigen Blick hatte ich bei noch keiner Frau gesehen. Sophie stand vollkommen neben sich. Doch zugleich war da etwas zwischen uns, das uns eine gewisse Vertrautheit schenkte. Ich wollte was sagen, etwas Beruhigendes, Motivierendes, doch dann kam ich einfach nur näher und gab ihr das Handy. Sie schaute mich an, schaute mit ihrem süßen, kleinen Kopf und den pattnassen Haaren hoch. Plötzlich umarmte sie mich. Ich war perplex, umarmte sie aber auch. Da standen wir nun. Zwei einsame, mitten in der Dunkelheit und mitten im strömenden Regen.
Warum sie mich umarmte, konnte ich nur mutmaßen. Mit Sicherheit hatte sie sich nicht in mich verliebt und mit Sicherheit hatte sie auch nicht in mir ihren Traummann gesehen. Aber ich kam gerade in dem Moment, als ihre kleine Welt, die sie sich mühsam aufgebaut hatte, zusammenbrach und sie nun vor den Scherben Stand. Vermutlich hätte sie jeden einfach umarmt. Das Glück wollte es, das ich es war. Und obwohl ich ihr eigentlich die Dunkelheit brachte, konnte sie daraus neue Kraft schöpfen.
Waren es zwei oder vielleicht vier Minuten, die wir wie versteinerte Statuen im Regen umarmend dastanden. Wir sprachen kein Wort. Die schweren, nassen Tropfen hämmerten weiter auf uns ein.
Irgendwann schaute ich sie an. Ich setzte einen charmanten lieblichen Blick auf, der vermutlich durch den Schauerregen zum Gegenteil verwandelt wurde.
»Ich bin Victorinus ...«, schallte es aus meinem Mund.
Sie schaute mich an und fing an zu lächeln.
»Du verarscht mich?«
Ich lächelte ebenfalls und wieder hatten wir einen Draht zueinander.
»Ich weiß nicht, wie es Dir geht? Aber ich denke, es ist ziemlich nass hier. Wollen wir nicht in ein Café gehen. Es gibt um die Ecke ein kleines, warmes Café zum Aufwärmen?«, raunte ich ihr mit heiserer Stimme entgegen.
Sie nickte und ich nahm ihre Hand und zog sie kräftig in Richtung des kleinen Cafés, das ich so gerne besuchte. Nicht zuletzt, weil ich den Inhaber seit Jahren kannte. Als wir in den Laden kamen, sah er mich sofort und fuchtelte mit seinen Händen aufgeregt umher. Er schien besorgt und rannte nach hinten, kam kurz danach mit dicken Handtüchern wieder, in denen wir uns Einlummeln konnten. Er gab uns ganz hinten, in einer stillen Ecke, etwas abseits zu den anderen Tischen, einen Platz.
In den ersten Minuten waren wir mit den zahlreichen Regentropfen beschäftigt, die sich immer noch auf Kleidung und Haaren sammelten.
Erst als uns Gustave ein paar Kekse und einen heißen Irish Coffee brachte, wurde uns langsam wärmer. Gustave, war ein Italiener, der vor 40 Jahren ins Land kam. Er sprach perfekt Englisch, Französisch und Deutsch und natürlich italienisch. Doch im Laden vor seinen Kunden zeigte er das nie. Er sprach dann immer in gebrochenem Deutsch, damit er seine italienische Herkunft in den Vordergrund stellen konnte. Die Kunden liebten das und kamen gerade wegen seiner Warmherzigkeit zu ihm.
Wieder lächelte sie. Ihre Haare waren vollkommen durcheinander, aber nicht mehr so nass wie gerade eben. Die ganzen Regenwellen hatten sich gelöst und sie wirkte mit einmal entspannter.
»Du heißt doch nicht wirklich Victori ... Victorio ...«
Ich unterbrach ihr kleines Stammeln und half ihr beim Suchen der richten Endung: »Victorious. Doch so heiße ich wirklich!«
Sie schaute mich mit ernsten, großen Augen an und dann konnte sie ihr Lachen nicht zurückhalten.
»Scheiße, das ist kein Witz?«
Für einen Moment war es ruhig. Doch dann entschuldigte sie sich, für den Fall, dass ich ihre letzte Bemerkung falsch verstanden hatte. Sie merkte an, dass sie manchmal ein loses Mundwerk haben konnte.
Der Leser wird sich nun fragen, ob mein Name wirklich Victorinus war. Als kleine Aufklärung sei hier anzugeben, das es sowohl der Richtigkeit entsprach als auch wieder nicht. Meine Eltern nannten mich Wiktor, das lag daran, dass irgendein Urvorfahre von mir Russe gewesen sein sollte. Damit das aber nicht zu offensichtlich wurde, wandelte man das V in ein W und deutschte den Namen sozusagen ein. Als junger Erwachsener glitt ich dann nach und nach in die SM Szene ab. Eine ältere Frau verführte mich, vielleicht missbrauchte sie mich auch zu einigen Praktiken. Zumindest gefiel es mir damals. In den Anfangsjahren ließ ich mich noch von ihr führen, bis ich irgendwann meine eigene Dominanz erkannte und mich fortan Victorius nannte. Abgeleitet von Victorious, dem Eroberer. Tatsächlich ließ ich mir diesen Namen vor einigen Jahren unter erheblichen bürokratischen Schwierigkeiten sogar als Künstlernamen eintragen und er prangerte somit auch auf meinen offiziellen Ausweisdokumenten.
»Ich bin übrigens Sophie«, sagte sie mit einer bezaubernden Stimme und noch immer eingepackt in dicken Handtüchern, während sie genüsslich den Irish Coffee schlürfte.
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