»Ruiz? Das macht doch keinen Sinn!« Sie sah ihn mit großen, fragenden Augen an.
»Ich weiß.« Lennard zuckte mit den Schultern.
»Und nun, was sollen wir jetzt machen?«
»Tja, vor allen Dingen die Ruhe bewahren. Ich behalte Ruiz im Auge und du hältst dich von ihm fern. Viel mehr können wir nicht machen. Der Besitz der Kiste beweist schlussendlich ja gar nichts. Wer weiß, wie viele von diesen Dingern in Manaus im Umlauf sind.« Er zuckte abermals mit den Schultern.
Dann nahm er sie wieder in den Arm und Andrea schmiegte dankbar ihren Kopf an seine Brust. Später, lange nachdem sie miteinander geschlafen hatten, schlummerte Andrea eng an Lennard gekuschelt in seiner schmalen Koje ein. Lennard genoss das Gefühl ihrer Nähe, ihrer Wärme und das leichte Kitzeln ihres Atems auf seiner Brust. Gegen 1:00 Uhr übermannte dann auch Lennard der Schlaf.
Auch in dieser Nacht plagte ihn der Traum, aber in einer milden, abgeschwächten Form. Zwar schreckte Lennard kurz hoch, doch sein Puls beruhigte sich schnell wieder, als er Andrea neben sich spürte. Er schmiegte sich eng an sie und kaum eine Minute später schlief er bereits wieder.
Plötzlich wurde Lennard heftig an den Schultern geschüttelt. »Wach auf, schnell, komm schon«, riss ihn Andreas eindringliche Stimme aus dem Schlaf.
Als er die Augen aufschlug und ihr bleiches, entsetztes Gesicht über sich sah, war er sofort hellwach.
»Was ist?«, fragte er besorgt, während er sich aus der Koje schwang.
»Sei leise und komm mit«, flüsterte Andrea, die fast schon wieder an seiner Kabinentür war. Nur mit Boxershorts bekleidet folgte er ihr hastig zu ihrer Kabine. Andrea zog ihn am Arm in den Raum und schloss dann leise die Tür hinter ihm. Lennard war von dem Auftritt immer noch verwirrt.
Andrea deutete auf ihr Bett und als Lennards Blick ihrer Geste folgte, stieß er erschrocken den Atem aus. In Andreas Kopfkissen, genau da, wo ihr Kopf gelegen hätte, wenn sie in ihrer Koje geschlafen hätte, steckte der Pfeil einer Harpune. Mit zwei Schritten war Lennard am Kopfende des Bettes. Der Pfeil hatte das Kopfkissen durchschlagen und war dann noch knapp zwei Zentimeter tief in den hölzernen Bettrahmen eingedrungen.
Fassungslos blickte er Andrea an. Hätte sie im Bett gelegen, hätte die Hochdruckharpune ihren Schädel durchbohrt wie nichts.
Schlagartig wurde Lennard klar, dass auch der Anschlag im Hotel kein Zufall oder eine Verwechslung war. Die dumpfe Befürchtung war zur Gewissheit geworden. Jemand versuchte gezielt, Andrea umzubringen, und da sie an Bord eines Schiffes waren, musste dieser Jemand entweder einer der Teilnehmer oder eines der fünf Besatzungsmitglieder sein. Sie fuhren zum Rio Xingu … mit einem Mörder an Bord.
Lennard schüttelte den Kopf. Sollte dieser Jemand tatsächlich Ruiz sein? Er wusste es nicht. Als er bemerkte, dass Andreas Unterlippe zu zittern begonnen hatte. Vermutlich hat sie erst jetzt die gesamte Tragweite der Situation erfasst, dachte Lennard. Er ging zu ihr und nahm sie in den Arm, lange und fest.
Schließlich hatten sie den Schock überwunden und schlichen zurück in Lennards Kabine, um die Lage zu analysieren. Zunächst einmal war klar, dass der Täter den Generalschlüssel benutzt haben musste, da Andrea ihre Kabinentür abgeschlossen hatte. Leider hing dieser für alle zugänglich an einem Brett direkt am Aufgang zum Deck. Und natürlich hatte der Täter durch den Generalschlüssel auch Zugang zur Waffenkammer und damit zu den Harpunen. Diese Überlegung brachte sie also nicht wirklich weiter. Ferner war ihnen klar, dass der Täter in das dunkle Zimmer hineingeschossen haben musste. Hätte er in der Kabine Licht gemacht, hätte er ja gesehen, dass Andrea gar nicht im Bett lag und folglich hätte er erst gar nicht geschossen. Licht war auch nicht zwingend notwendig, da alle Kabinen exakt gleich aufgebaut waren und er also genau wusste, wo ihr Bett stand.
Der Mörder hatte also in die dunkle Kabine geschossen, aber was dann? Vermutlich, schlussfolgerten die beiden weiter, war er direkt nach dem Schuss geflohen. Und als in der Folgezeit keine Schreie aus ihrem Zimmer drangen oder Andrea gar selbst auf dem Flur erschien, um die anderen zu alarmieren, musste er davon ausgegangen sein, dass er getroffen hatte und Andrea tot in ihrem Bett lag.
Die beiden fassten einen Plan. Lennard würde zum Frühstück gehen, Andrea sich in seiner Kabine einschließen. Wenn dann alle Teilnehmer beisammen wären, würde er sich unter einem Vorwand entschuldigen und Andrea Bescheid geben, dass alle da wären. Dann würde er zum Frühstück zurückkehren und die Gesichter und Reaktionen der Teilnehmer genau beobachten, wenn Andrea eine Minute später den Raum betrat. Ruiz würde er dabei besonders gut im Auge behalten.
Der Plan funktionierte tatsächlich reibungslos. Nur leider blieb die gewünschte Reaktion aus. Ruiz lächelte Andrea freundlich zu, als sie den Raum betrat und auch die anderen Teilnehmer verhielten sich vollkommen natürlich. Keinem war auch nur ein Hauch von Überraschung anzumerken. Nichts, aber auch gar nichts, ließ darauf schließen, dass einer der Teilnehmer der Täter war.
Dann berichtete Andrea den anderen von dem Attentat und Lennard beobachtete die Gesichter und Reaktionen der anderen. Alle, durch die Bank alle, waren geschockt. Als Andrea erwähnte, dass sie dem Attentat nur entgangen sei, weil sie bei Lennard übernachtet hatte, drehten sich einige Teilnehmer überrascht zu ihm, aber Lennard verzog keine Miene. Er war sogar froh, dass das Versteckspiel jetzt ein Ende hatte. Es war ja nun wirklich auch nichts Verbotenes, mit einer attraktiven Frau liiert zu sein.
Als Kapitän Lucas in den Raum kam, wurde natürlich auch er über die Vorkommnisse unterrichtet. Lucas reagierte genauso entsetzt wie die anderen, schwor aber Stein und Bein drauf, dass niemand aus der Crew als Täter in Betracht käme.
»Das ist ein Zeichen, eine Warnung der Geister. Kehren Sie um, solange es noch nicht zu spät ist«, orakelte Lucas düster und zupfte dabei nervös an seinem Ohrläppchen. »Glauben Sie mir Mr Larson, Lucas weiß, wovon er spricht«, flüsterte er Lennard noch zu, bevor er sich aufmachte, die Waffenkammer zu inspizieren. Vergeblich. Beide Harpunen hingen an ihrem Platz. Nur ein Pfeil fehlte.
Alle weiteren Bemühungen, dem Mörder auf die Spur zu kommen, verliefen genauso erfolglos wie die bisherigen. Als dann auch der Letzte realisierte, dass man sich in Gesellschaft eines Mörders befand, sank die Stimmung auf den Tiefpunkt. Sämtliche Vorfreude war verflogen. Unterschwellig hatte sich Misstrauen an Bord geschlichen. Das Misstrauen eines jeden gegen fast jeden anderen. Zwar wahrten alle den Schein der Normalität und gingen ihren normalen Aktivitäten nach, doch wusste jeder, dass unter der Fassade dieser Normalität das Böse lauerte.
Der monotone Schiffsalltag, während die Rita den Amazonas entlangtuckerte, trug natürlich auch nicht zur Besserung der Gemütslage bei. Die drückende Luft, die Moskitos, angelockt von menschlichem Schweiß, zerrten zudem an den Nerven aller. Nur ganz langsam entspannte sich die Situation wieder. Dies war sicherlich dem Umstand geschuldet, dass die folgenden Tage ohne nennenswerte Vorkommnisse dahinschlichen. Und es kam einem befreienden Aufatmen gleich, als die Rita drei Tage später endlich die Mündung des Rio Xingu erreichte und in den Nebenfluss des Amazonas hineinsteuerte.
Trotzdem, dachte Lennard, er stand an der Reling und betrachtete das Wellenspiel des Rio Xingu, die Expedition steht unter keinem guten Stern. Erst als Andrea zu ihm trat, hellte sich seine Miene auf.
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