Lennard nickte zufrieden und legte den Zettel auf den Schreibtisch. In der Zwischenzeit hatte Andrea den Champagner geöffnet und zwei Gläser eingeschenkt. Sie prostete ihm zu und als er den Gruß erwidert hatte, nippten beide an ihren Gläsern.
Die ganze Zeit über hatte sie ihn mit ihren braunen Mandelaugen aufreizend, fast schon herausfordernd, fixiert. Erneut wurde Lennard bewusst, was für eine Schönheit diese Frau war und noch ein Gedanke ließ sich nicht mehr aus seinem Kopf verbannen: Seit Victoria hatte er mit keiner Frau mehr geschlafen. Er konnte nicht ahnen, dass es sich bei Andrea ähnlich verhielt. Auch sie hatte seit ihrer Trennung enthaltsam gelebt. Lennard räusperte sich.
»Andrea, ich würde dich jetzt gerne in den Arm nehmen und … naja … küssen, aber …«
»Was aber …?«
»Ich weiß halt nicht, ob … ich meine … ich denke …«
Mein Gott, was für ein Blick. Lennard versank förmlich in ihren Augen. Sie wirkte jetzt unglaublich verletzlich.
»Nun«, fuhr er endlich mit einem unsicheren Lächeln fort, »aber als ich das letzte Mal deine Brust berührt habe, hast du angefangen zu jammern.«
»Und diesmal passiert das mit dem Jammern, wenn du sie nicht endlich berührst.«
Sie küssten sich. Erst vorsichtig, dann immer forschender und irgendwann fordernd, drängend, bevor sie ausgehungert, wie sie waren, übereinander herfielen. Ihr Liebesspiel dauerte den ganzen Nachmittag. Gegen 18:00 Uhr schlich Andrea auf ihr Zimmer. Sie hatten entschieden, ihre Liaison vorerst geheim zu halten. Trotzdem waren beide aufgeregt wie frisch verliebte Teenager und konnten es nicht erwarten, sich um halb acht in der Bar zur offiziellen Verabschiedung durch Prof. Jones wiederzusehen.
Wie nicht anders zu erwarten, war Prof. Jones auf die Minute pünktlich in der Hotelbar erschienen. Lennard war schon eine Viertelstunde früher in der Bar gelandet und hatte sich mit Brigitte und Jack einen Drink gegönnt. Andrea war kurz vor Jones hereingeschneit und hatte sich gleich dazugesellt. Als sie sich neben Lennard schob, war ihre Hand kurz über seinen Arm gefahren. Ein angenehmes Prickeln durchzuckte seinen Körper.
Jones wurde natürlich sofort über die Ereignisse der Nacht informiert. Er war schockiert. Nicht wegen der Gefahr, in der Andrea geschwebt hatte, sondern wegen der vagen Möglichkeit, dass mit dem Anschlag die gesamte Expedition torpediert werden sollte.
Man merkte ihm an, wie froh er sein würde, wenn sich alle Teilnehmer in wenigen Stunden an Bord der Rita befänden und damit aus der Gefahrenzone heraus waren. Das galt natürlich insbesondere für Andrea.
Das Buffet, welches an diesem Abend aufgefahren wurde, war phänomenal und übertraf sogar die Gaumenfreuden der vergangenen Abende. Alle Teilnehmer ließen es sich schmecken und scheinbar schwirrte das Wort Henkersmahlzeit dabei nur Lennard durch den Kopf.
Gegen 22:00 Uhr war es dann soweit. Jones schlug gegen sein Glas, um die ungeteilte Aufmerksamkeit des Teams zu bekommen. Nachdem er noch mal auf die besondere Bedeutung und Rolle der National Geographic Society eingegangen war, wandte er sich einem Hotelangestellten zu, der mit einem Tablett Cachaça, jenem typischen brasilianischen Zuckerrohrschnaps, den Raum betreten hatte. Jones nahm ein Glas und wartete, bis alle Teilnehmer versorgt waren. Dann hob er sein Glas, prostete allen zu und sagte: »Auf eine erfolgreiche Expedition Fawcett 2013 und eine glückliche Heimkehr.«
Die Teilnehmer wiederholten seine Worte und tranken dann ihren Cachaça in einem großen Zug. Wie es der alte Brauch verlangte, wurden die leeren Gläser dann in dem Kamin an der Wand zerschmissen.
Jetzt hatte die Expedition offiziell begonnen. Jones verabschiedete sich noch von jedem persönlich und verschwand dann mit einem Taxi zu seinem Hotel. Auf die Gruppe wartete ein Kleinbus, der sie zur Rita brachte.
Alle waren vor Abenteuerlust und Neugier schier elektrisiert. Jetzt ging es also los zu einem der letzten, geheimnisvollen schwarzen Flecken auf unserem Planeten, von denen der Schriftsteller Joseph Conrad ach so gerne doch noch mehr gehabt hätte.
Gegen 5:00 Uhr morgens legte die Rita ab. Fast alle Expeditionsteilnehmer schliefen ruhig in ihren Kabinen, nur Lennard und Andrea standen eng aneinander geschmiegt an der Reling und betrachteten die Lichter der Stadt. Mit gedrosselten Motoren ließ sich die alte Dame gemächlich von der Strömung des Rio Negro zu dessen Einmündung in den Amazonas tragen.
Schon bald verblassten die Lichter und Geräusche der Stadt und die ganz eigene Magie des großen Stroms und des Regenwaldes nahm sie gefangen. Das Abenteuer hatte begonnen.
Mato Grosso
Kapitel 3
15. April 1925
Nun sind schon wieder drei volle Tage ins Land gezogen, seit wir auf die Quelle des Rio Araguaia gestoßen sind. Drei Tage ohne nennenswerte Ereignisse, sieht man einmal davon ab, dass sich die Zahl der Moskitos scheinbar täglich verdoppelt.
Wir werden dem Fluss noch drei weitere Tage tief ins Herz des Mato Grosso folgen. Dann, lange bevor sich seine Fluten mit denen des Rio Tocantins vereinen, werden wir anlanden und unseren mühsamen Marsch nach Cuiabá beginnen, der sogenannten Provinzhauptstadt des Mato Grosso. Dabei ist die Marschrichtung klar; immer gen Westen.
Dort, in Cuiabá, diesem erbärmlichen, vor Dreck starrenden, letzten Vorposten der Zivilisation, wollen wir noch einmal Atem holen, bevor es weiter geht zum Rio Xingu und dann ins Unbekannte. Sorgen mache ich mir indes keine. Mein Sohn Jack und Raleigh Rimmel scheinen dem Reiz des Regenwaldes – dieser nie enden wollenden grünen Hölle – bereits genauso erlegen zu sein, wie es bei mir der Fall ist.
Insbesondere möchte ich an dieser Stelle einmal Mr Rimmel lobend hervorheben. Zugegeben, als mein Sohn Jack mir eröffnete, dass sein Freund Raleigh Rimmel – seines Zeichens Zeitungsfotograf – uns begleiten wollte, war ich davon zunächst wenig erbaut. Da aber auch die North American Newspaper Alliance, eine der maßgeblichen Geldgeberinnen der Expedition, auf die Teilnahme eines Pressevertreters bestand, willigte ich schließlich ein. Zum Glück. Nicht nur, dass er in körperlich ausgezeichneter Verfassung ist und meinen Sohn Jack und mich unterstützt, wo er nur kann, nein auch mit seiner zurückhaltenden, freundlichen Art trifft er den genau richtigen Ton gegenüber den Indios unserer Begleitmannschaft. Auch murrt er nicht, wenn die Indios immer wieder sein feuerrotes Haar bewundern und befühlen wollen. Rimmel ist es auch, der mit seiner extrem hellen Haut am meisten unter der sengenden Sonne und den Moskitoscharen leiden muss. Aber kein Wort der Klage kommt über seine Lippen. Ein famoser Kerl und eine Bereicherung für unsere Gruppe.
Percival H. Fawcett
Gut zwei Stunden nachdem die Rita abgelegt hatte, erreichte sie die Mündung des Rio Negro in den Amazonas. Den Teilnehmern und der Besatzung bot sich ein einmaliges Naturschauspiel. Nach der Einmündung sah es viele Kilometer so aus, als würden sich zwei Flüsse ein und dasselbe Flussbett teilen. Auf der Backbordseite war das Wasser schwarz wie die Fluten des Rio Negro, steuerbordseitig bräunlich-trüb wie die des Amazonas. Erst ganz allmählich vermischten sich die Flüsse, bis schließlich die bräunlich-trübe Färbung des Amazonas dominierte. Bis auf Dr. Velmer und Ruiz hatte sich die komplette Gruppe an Deck versammelt, um dieses Phänomen zu bestaunen.
»Atemberaubend«, murmelte Brigitte an der Reling lehnend, den Blick starr aufs Wasser gerichtet.
»Ja, der Amazonas ist eine ganz eigene Welt«, steuerte Prof. Schmidt sinnierend bei. Etwas abseits von den anderen hatte sich Jack Cameron weit über die Reling gebeugt, um eifrig Fotos von den beiden Flusshälften zu schießen. Olaf und Martina bombardierten Andrea mit Fragen über den Amazonas, die diese nur zu gerne beantwortete.
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