Wenige Minuten später erschien dann auch Ruiz und das Buffet wurde eröffnet. Alles in allem war die Stimmung etwas ruhiger und weniger ausgelassen als gestern Abend. Irgendwie schien jeder seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Verwundert war Lennard darüber aber nicht, schließlich begann für manche Teilnehmer übermorgen vielleicht das Abendteuer ihres Lebens. Da fragte man sich natürlich dreimal, ob man an alles gedacht hatte und auch, was einen wohl erwarten würde.
Andrea hatte im Laufe des Abends mehrmals versucht, mit ihm Blickkontakt aufzunehmen, aber Lennard hatte so getan, als ob er es nicht bemerken würde. Nach dem Essen hatte er es sich noch mit Brigitte und Jack auf der Terrasse bequem gemacht. Gegen 23:00 Uhr nagte dann aber doch die vorangegangene Nacht an ihm und er verabschiedete sich von den beiden. Als er die Bar durchquerte, entdeckte er Andrea, die mit Ruiz und Edda an der Bar saß. Die anderen hatten sich bereits auf ihre Zimmer begeben.
Er wünschte auch den dreien eine angenehme Nacht und merkte, als er Andrea in die Augen sah, dass ihr Blick gekränkt wirkte. Hatte er sie etwa verletzt? Aber womit denn? Er hatte doch gar nichts gemacht. Naja, vielleicht gerade damit, dachte er, als er auf sein Zimmer ging.
Hier, ich bin hier! Hier bin ich! Hier! Hier!
Die Wände des Eislabyrinths schoben sich immer enger an Lennard ran. Verzweifelt fiel sein Blick in den nächsten Gang. Die Wände würden ihn gleich erreichen und dann ganz langsam zerquetschen.
Die Rufe seiner Frau waren in seinen Kopf zu einem Orkan angeschwollen. Hier bin ich! Hier!
Jetzt hatten ihn die Wände erreicht.
Hier bin ich! Hier!
Er wachte mit einem Schrei auf.
Lennards Oberkörper war nassgeschwitzt und seine Atmung ging stoßweise. Er setzte sich auf die Bettkante und griff nach seiner Schachtel Luckys auf dem Nachttisch. Mit zitternden Fingern zündete er sich eine Zigarette an und inhalierte tief. Eigentlich hatte er sich ja fest vorgenommen, das Rauchen endlich aufzugeben. Aber scheiß auf das Gequatschte von wegen Gesundheit, meldete sich eine nagende Stimme in seinem Kopf. In solchen Momenten hatte eine Zigarette etwas unglaublich beruhigendes.
Während er rauchend in seinem dunklen Zimmer auf der Bettkante saß, kehrten seine Gedanken zurück in die Vergangenheit. Zurück zu Victoria. Und so sehr er auch dagegen ankämpfte, füllten sich seine Augen doch langsam mit Tränen.
Es hatte über ein Jahr gedauert, ehe sich der Schmerz auf ein erträgliches Maß eingependelt hatte. Und ein weiteres Jahr war vergangen, ehe ihm seine Arbeit langsam wieder Spaß gemacht hatte. Wenn nur dieser verfluchte Traum nicht wäre, dachte er und drückte seine Kippe im Aschenbecher aus. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und schüttelte den Kopf, schnaufte einmal kräftig durch und wollte sich wieder hinlegen, als er ein Geräusch hörte.
Erst konnte Lennard das Geräusch nicht wirklich einordnen. Er wusste nur, dass es nicht zur nächtlichen Melodie des Urwalds gehörte. Als das Geräusch ein weiteres Mal erklang, ahnte er, was es war. Schritte. Leise Schritte. Und zwar auf dem Balkon, der die komplette erste Etage und damit auch die Zimmer aller Teilnehmer umrahmte.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es bereits halb vier war. Sollte so spät noch jemand aus der Gruppe auf dem Balkon sein, um Luft zu schnappen? Vielleicht kann der- oder diejenige ja auch nicht schlafen, dachte Lennard. Da ich eh wach bin, kann ich auch einfach nachsehen, entschied er und schwang sich aus dem Bett. Irgendein Instinkt riet ihm, leise zu sein und so entriegelte er behutsam seine Balkontür und öffnete sie vorsichtig.
Als er leise auf den Balkon trat, sah er eine ganz in Schwarz gekleidete Gestalt, die sich durch das Fenster in Lennards Nachbarzimmer beugte.
Andreas Zimmer, schoss es ihm durch den Kopf. Vermutlich hatte sie das Fenster nur angelehnt, denn Einbruchsgeräusche hatte er keine gehört.
»Hey«, rief er der Gestalt zu.
Der Eindringling wirbelte herum, stieß einen Fluch aus und machte im nächsten Moment schon eine elegante Flanke über das Balkongeländer. Im Garten rollte er sich geschickt ab und eine Sekunde später war der Schatten bereits zwischen den schemenhaften Umrissen der Bäume verschwunden.
Was war das denn, überlegte Lennard vollkommen perplex. Habe ich jetzt gerade einen Einbruch verhindert? Oder Schlimmeres? Andrea war ohne Zweifel eine attraktive Frau. Immer noch nachdenklich ging er zu ihrem Fenster. Er beugte sich vorsichtig vor, um in Andreas Zimmer zu gucken. Dann sog er erschreckt die Luft durch die Zähne. In dem Halbdunkel hatte er erkannt, dass Andrea kerzengerade in ihrem Bett saß.
»Andrea …«
»Lennard?«
»Ja.«
»Lennard, der Mann … am Fenster … er … er hat etwas auf mein Bett geworfen … Oh Gott, Lennard … Es sitzt auf meiner Brust … und bewegt sich.«
Ihre Stimme war ein zittriges Flüstern und Lennard hörte, dass sie kurz davor stand, in Panik auszubrechen.
»Okay, mach keinen Mucks und rühr dich nicht. Versuch, ruhig zu atmen. Ich bin sofort bei dir.«
Noch ehe Andrea etwas erwidern konnte, war Lennard in sein Zimmer gelaufen und schnappte sich seinen Rucksack. Er wühlte kurz drin herum und förderte seine Taschenlampe und sein Nahkampftauchermesser zutage.
Sekunden später war er wieder an Andreas Fenster. Während er durch das Fenster kletterte, leuchtete er den Zimmerboden vorsichtig ab.
Als Erstes fiel der Lichtkegel auf den mit Holz verstärkten Schuhkarton. Direkt daneben lag der mit Luftlöchern perforierte Deckel. Vorsichtig darauf bedacht, kein Geräusch zu machen, glitt Lennard tiefer in den Raum hinein.
Andrea wimmerte leise. Der Strahl der Taschenlampe wanderte vom Fußende ihres Bettes aus höher. Andrea schien zu zittern. Um Gottes willen, ruhig Mädchen, dachte er, als er den Lichtstrahl langsam über ihre Hüften höher gleiten ließ. Das Licht beschien nur ihr dünnes schwarzes Satinnachthemd. Scheinbar wollte sie sich noch mal etwas Luxus gönnen, bevor es losging. Frauen halt.
Als der Lichtkegel Andreas Brust erreichte, traf der Schein der Taschenlampe auf die acht Augen der Armadeira. Die handgroße Spinne riss sofort angriffslustig ihre beiden vordersten Beine hoch. Sie saß genau zwischen Andreas Brüsten und nur der dünne Satinstoff trennte ihre Giftklauen von Andreas Haut. So eine Scheiße, fluchte Lennard in Gedanken. Ausgerechnet eine Bananenspinne. Keine Spinne der Welt war für mehr tödliche Bisse bei Menschen verantwortlich als die Bananenspinne. Zudem galt sie als äußerst aggressiv. Größere Angreifer versuchte sie sogar mehrmals zu beißen und war bekannt dafür, diese sogar anzuspringen. Er ließ den Lichtkegel weiterwandern, um die Spinne nicht noch aggressiver zu machen. Der Strahl hatte dabei auch kurz Andreas Gesicht gestreift.
Sie biss sich auf die Unterlippe. Ihre Mundwinkel zitterten. Die Augen hatte sie fest zugekniffen und Lennard hatte auf ihren Wangen zwei Tränen erkannt. Er stand jetzt direkt neben ihr. Seine rechte Hand, die das Messer hielt, war schweißnass. Um die Spinne abzulenken, hatte er begonnen, mit der Taschenlampe kleine Achten über dem Tier in den Raum zu malen. Das Messer näherte sich der Spinne. Er wollte versuchen, die scharfe Klinge unter ihren Vorderkörper zu bringen, um sie dann mit einem Ruck von Andrea wegschleudern zu können.
Als seine Hand dabei über Andreas Busen strich, wimmerte sie wieder leise. Dann begriff sie, dass es seine Hand war und entspannte sich ein wenig. Die Spinne verharrte weiterhin in Angriffsposition. Bereit, jederzeit zuzubeißen.
Trotz des schwachen Lichts konnte Lennard erkennen, dass das Messer die Spinne inzwischen erreicht hatte. Millimeter für Millimeter schob er die Klinge zwischen dem ersten und dem zweiten Beinpaar unter das Tier. Mittlerweile war auch seine Stirn schweißnass. Die Klinge erreichte Andreas linke Brust. Lennard atmete noch einmal tief durch. Dann riss er mit einem Ruck das Messer hoch.
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