Sie saßen sich einen Moment lang schweigend gegenüber. Andrea hielt weiter Lennards Hand umfasst. Lennard musste sich eingestehen, dass ihre Argumente einer gewissen Plausibilität nicht entbehrten. Glücklich machte ihn das natürlich trotzdem nicht. Und er wurde aus Andrea nicht richtig schlau. Suchte die Frau wirklich seine Nähe? Oder nur einen Verbündeten gegen Schmidt? Oder beides? Um das Schweigen nicht peinlich werden zu lassen, räusperte sich Lennard und zog seine Hand zurück.
»Okay, deine Argumente gegen die Society kann ich ja vielleicht noch nachvollziehen. Aber woher kommen deine Vorbehalte gegenüber Schmidt?«
Unschlüssig zuckte Andrea mit den Schultern. »Nichts Spezielles, einfach so«, druckste sie herum. »Vermutlich misstraue ich ihm nur, weil er von der Society ausgewählt worden ist«, fügte sie schließlich kleinlaut hinzu.
Lennard atmete einmal tief durch, bevor er antwortete: »Andrea, es geht hier überhaupt nicht darum, ob ich deine Argumente akzeptiere oder nicht. Es geht darum, dass wir nur als Team Erfolg haben werden. Und dazu gehören in vorderster Front auch du und Prof. Schmidt. Das solltest du nicht außer Acht lassen, okay?«
»Ich werden alles dafür tun, dass die Expedition ein Erfolg wird, alles.«
Lennard wusste nicht, ob ihn diese Antwort freuen oder ihm Angst machen sollte. Trotz des wenig erbaulichen Verlaufs des Morgens war er froh, dass er sich jetzt ein wesentlich besseres Bild von der Situation und den Teilnehmern machen konnte.
»Gut«, sagte er schließlich und musste sich diesmal um ein Lächeln bemühen. »Du solltest jetzt schnell frühstücken. Gleich geht es doch in den Hafen. Ich werde jetzt auch noch mal kurz verschwinden.« Damit verabschiedete er sich und erhob sich von seinem Stuhl.
Auch Andrea stand auf. »Bis gleich.« Sie zwinkerte ihm zu und ging zum Frühstücksbuffet.
Hoffentlich erlebe ich bei dem Schiff, der Ausrüstung und der Begleitmannschaft nicht noch weitere Überraschungen, ging es Lennard durch den Kopf, als er die Treppe zu seinem Zimmer hocheilte.
Die Tageszeitungen von Manaus wurden natürlich nicht nur im Hotel gelesen, sondern auch in den kleinen Nebenstraßen der Zona Sol. Hugo Delgardo, der Besitzer eines kleinen Antiquitäten- und Kolonialwarenladens, konnte es nicht fassen, als er Andreas lächelndes Gesicht auf der Titelseite sah und den nebenstehenden Text las. Jetzt schäumte er vor Wut. Schlimmer noch, sein Stolz war tief gekränkt. Damals, als er der Frau den Karton Altpapier verkauft hatte, war er nach Ladenschluss in die Bar eines Freundes gegangen und hatte sich damit gebrüstet wie er die louca alemã mulher, diese verrückte Deutsche, ausgenommen hatte. Natürlich hatte er das Ganze nach landestypischer Sitte noch ein wenig ausgeschmückt und sich eine halbe Flasche Rum später selbst zum König aller Verkäufer gekrönt. Ob seines geschäftlichen Triumphs hatte er sich sehr generös gezeigt und mit seinen Freunden bis in die frühen Morgenstunden gefeiert. Eben jenen Freunden, die schon den ganzen Vormittag kleckerweise in seinen Laden kamen. Immer mit einer aktuellen Tageszeitung bewaffnet. Immer mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Und immer mit der Bitte, er möge doch noch mal die Geschichte von der verrückten Deutschen erzählen. Der Satz, er, der König der Verkäufer, solle aber ja nichts auslassen, ging dann schon meistens im schallenden Gelächter unter.
Jetzt stand er vor dem Spiegel, vor dem Andrea gestanden hatte und funkelte sich selbst böse an. Er war betrogen worden. Schlimmer noch, er war von einer Frau betrogen worden, oben drein noch von einer Ausländerin.
Nicht mit mir! Er schüttelte langsam den Kopf. Nicht mit Hugo Delgardo. Ein diabolisches Grinsen machte sich langsam auf seinen wütenden Zügen breit. Abwarten, dachte er, abwarten. Das Schicksal hatte sich nicht ganz gegen ihn gewandt. Immerhin wusste er, in welchem Hotel das Expeditionsteam logierte. Abwarten.
Die Rita lag gut vertäut an einem Pier etwas abseits des Haupthafens für die großen Frachtschiffe. Auch wenn die Rita auf Lennard wirkte, als hätte sie schon einige Jahre auf dem Buckel, war das Schiff und insbesondere sein Innenleben tadellos in Schuss.
Lennard hatte sich um 10:30 Uhr mit Andrea und Prof. Schmidt auf den Weg zum Hafen gemacht. Von der gereizten Stimmung zwischen den beiden war wenig zu spüren. Vielleicht auch, weil Lennard das Gespräch ganz bewusst auf Themen wie die benötigte Ausrüstung und die topografischen Besonderheiten am Oberlauf des Rio Xingu lenkte. Themen also, bei denen die beiden Wissenschaftler keine Experten waren und demzufolge die Rolle von Zuhörern einnahmen.
Am Schiff angekommen wurden sie überschwänglich von Kapitän Lucas begrüßt, einem bärbeißigen Amazonasschiffer wie aus dem Bilderbuch. Lenard schätzte den Latino auf Anfang fünfzig. Er war mittelgroß vielleicht so um die eins fünfundsiebzig und schob einen ordentlichen Bierbauch vor sich her. Der obligatorische Dreitagebart fehlte ebenso wenig wie das ölverschmierte Hemd, das der Kapitän damit entschuldigte, dass er gerade noch mal die Dieselmotoren überprüft hatte.
Wie nicht anders zu erwarten, überhäufte Lucas Andrea augenblicklich mit Komplimenten. Eine Prozedur, die in diesem Teil der Welt einfach dazugehörte. Andrea ließ es lächelnd über sich ergehen und fragte den Kapitän, als er eine Pause eingelegt hatte, um sich neue Komplimente zu überlegen, ob sie sich mit Prof. Schmidt etwas an Deck umschauen könne. Lennard und er könnten in der Zwischenzeit dann ja ungestört die Ausrüstung überprüfen.
Obwohl der Kapitän etwas überrumpelt schien, stimmte er zu und wies einen Matrosen an, die beiden über Deck zu führen. Hoffentlich kriegen die nicht wieder Zoff, dachte Lennard, als Kapitän Lucas ihm lächelnd die Hand auf die Schulter legte und ihn auf die Kommandobrücke der Rita führte.
Zwei Stunden später betrat Lennard wieder das Oberdeck. Vom Heck drang Gelächter zu ihm herüber. Als er in die Richtung schaute, sah er Andrea, Prof. Schmidt und Edda Velmer an einem Klapptisch sitzend Kaffee trinken. Die junge Ärztin musste kurz nach ihnen an Bord gekommen sein, um die kleine medizinische Abteilung der Rita zu inspizieren. Nach Streit sieht das zumindest schon mal nicht aus, freute sich Lennard und schlenderte zu den dreien herüber. Auch Lennard war bester Laune, hatte der Rundgang doch alle seine Fragen mehr als befriedigend beantwortet.
Die Rita verfügte über zwei leistungsstarke Dieselmotoren, die auch einem schwierigen Gewässer wie dem Rio Xingu problemlos trotzen sollten.
Nach dem Maschinenraum hatte Kapitän Lucas ihm zunächst die Kabinen gezeigt, die klein, aber funktional eingerichtet waren. Eine Expedition ist nun mal keine Luxuskreuzfahrt. Weiter war es dann in den Vorratsraum gegangen, wo sich Lennard überzeugen konnte, dass der Proviant, sowohl was die Menge als auch die Zusammenstellung betraf, nichts zu wünschen übrig ließ.
Ein ähnliches Bild zeigte sich in der Waffenkammer. Neben einigen Präzisionsgewehren und Handfeuerwaffen gab es eine große Auswahl an Macheten, die sich in Länge und Gewicht unterschieden, sodass jeder Expeditionsteilnehmer prüfen konnte, mit welcher Machete er am besten zurechtkam. An einer Wand hingen zudem zwei Taucheranzüge mit den dazugehörenden Tauchmessern und zwei Hochdruckharpunen. Zwar war kein Tauchgang vorgesehen, aber falls sich im Wasser treibende Schlingpflanzen und Wurzeln in der Schraube der Rita verfingen, konnte dies überaus nützlich sein, um den Kahn wieder flottzukriegen. Der zweite Taucher würde dann dem ersten den Rücken freihalten. Die Durchschlagskraft der Harpunen, wusste Lennard, konnte es sogar mit der Panzerung der mächtigen Mohrenkaimane aufnehmen. Und müssten einmal sehr große Hindernisse beseitigt werden, war auch eine Kiste Dynamit an Bord. Lennard war beeindruckt.
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