Nur manchmal, da flackerte anscheinend so etwas wie Zorn auf, und es kam Bewegung in ihre Miene. In solchen Momenten konnte es durchaus vorkommen, dass sie ihre Contenance vergaß und schrie: „Von mir aus soll er doch in Timbuktu sein und bleiben!“
Für Helen wurde dann eines sofort klar: Die Mutter hatte keineswegs vor, dem Vater dorthin zu folgen. Nach Timbuktu. Dem jungen Mädchen waren immer mehr Zweifel gekommen an der Liebe ihrer Eltern, sowohl zueinander als auch zu ihr.
Timo, ja, der wäre Helen sonst wohin gefolgt. Dass er in Helen verknallt war, pfiffen ja die Spatzen jahrelang von den Kleinstadtdächern. Aber sie? War sie auch verknallt und wäre ihm überall hin gefolgt?
Helen und Timo? Eine groteske Vorstellung! Niemals wäre sie mit dem Pickelheini gegangen. Nirgendwo hin!
Dann kam Roger und mit ihm der Wendpunkt in Helens Leben.
Wie aus dem Nichts war er eines Tages aufgetaucht. Urlaub mit Freunden am See wollte er machen. Das hatte sie bald erfahren, nachdem im Supermarkt zunächst ihre Einkaufswagen, dann ihre Köpfe zusammengeprallt waren. Alles purzelte wild durcheinander: ihre Tomaten, seine Bratwürste und vieles, was man so glaubt zu brauchen. Beim Aufheben und Sortieren kamen sie sich ganz nahe.
"Na, da hat aber jemand großen Appetit", sagte Helen und lachte ihre Erkennungsmelodie.
"Wir wollen heute noch grillen!" entgegnete der Fremde - und, nachdem Helens Lachen verklungen war, fragte er auch gleich, ob sie nicht auch Zeit und Lust hätte, hinunter an den See zu kommen. Er hieße übrigens Roger.
Helen streckte ihm die Hand hin.
"Helen. Ich bin Helen." Sie fühlte, wie ihr Gesicht Farbe bekam.
Spätestens, als er ihre Hand ergriff und sie leicht drückte, fühlte es sich an, als sei sie von einem elektrischen Schlag getroffen worden. Von Stund an vergaß Helen alles, was bisher ihr Leben ausgemacht hatte. Von einem Moment zum anderen war außer diesem Mann nichts mehr wichtig für sie, nicht einmal die Mutter (an den Vater wollte und konnte sie sich sowieso kaum noch erinnern). Freunde und Heimatort waren ebenso vergessen wie Zeit und Raum. Das alles spielte keine Rolle mehr für sie. Zu mächtig war sie von einem Gefühl überrollt worden, das sie bisher überhaupt nicht gekannt hatte. Sie glaubte, dass sie vor dem Erscheinen dieses Mannes überhaupt nicht richtig lebendig gewesen war. Und sie hielt dieses überwältigende Gefühl für Liebe.
Ach, Roger …
Natürlich war sie an jenem Abend pünktlich am See, beim Grillplatz gewesen. Nach dem stimmungsvollen Abend mit seinen Freunden war es für sie ganz selbstverständlich, dass sie miteinander schliefen. Aber das allein war es nicht, was ihm so große Macht über sie verlieh.
Allein schon seine Stimme zog sie unweigerlich in seinen Bann. Es störte sie auch nicht, wenn die bisher von anderen gewohnten Wörter bei ihm nicht vorkamen. Schön? Klug? Nein, solche Schmeicheleien hatten in seinem Vokabular nichts zu suchen. Für ihn war sie sexy und clever. Lief das nicht sowieso irgendwie auf dasselbe hinaus? Aber wie er ihren Namen aussprach, das war einfach unglaublich! Zwei Silben, Helen. Wie konnte sie so etwas nur so aus der Bahn werfen? Dieser Roger war ihr Schicksal. Glaubte sie.
Helen. Dieser Name war übrigens auch so ein Spleen ihrer Mutter gewesen. In der Schule hatten sie fast alle nur fromme Helene genannt.
Roger rief sie niemals so, weil er sie besser kannte und wusste, dass es sich mit ihr ganz anders verhielt. Fromm? Von wegen! Und sie wusste, dass er es wusste. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie ihm bedingungslos bis nach Timbuktu gefolgt wäre? Er hatte sie mit der Zeit immer fester im Griff.
Bei dem Gedanken an die fromme Helene verzog sie den Mund. Tatsächlich? So hatten die Mitschüler sie genannt? Mein Gott, wann war denn das?
Jene Zeit lag für Helen irgendwo im Nirgendwo, in fernem Nebel jedenfalls.
Die junge Frau versuchte jetzt ihre Glieder zu recken. Schon bei der geringsten Bewegung tat ihr alles weh.
Ganz unbeabsichtigt fiel ihr Blick durch die schmutzigen Scheiben, wanderte über die Dächer. Wie oft hatte sie sich zurückhalten müssen, um nicht einfach los zu wandern, mal an dieses oder jenes Fenster zu klopfen, um nur mal eben „Hallo!“ zu sagen.
Aber so etwas tut man nicht in einer Großstadt. Hier kümmerte man sich nicht um die Angelegenheiten der Nachbarn. So ein sentimentales Getue passe nicht hierher, hatte Roger gesagt. Und der musste es wissen.
Der Schrank mit der Klappe fiel ihr wieder ein, der passte auch nicht hierher. Er stammte aus ihrem einstigen Kinderzimmer, aus der elterlichen Wohnung, in der Provinz! Daran konnte sie sich jetzt doch wieder dunkel erinnern. Manche nannten den einfachen Klappschrank auch hochtrabend Sekretär. Zugegeben, es gab darin so manches Fach, in dem ihre kindlichen Geheimnisse versteckt lagen. Meist abgerissene Zettel von Jungs mit so komischen Botschaften, wie: Komm doch heute Abend hinter das Feuerwehrhaus.
Später, als sie schon in Berlin lebte, beherbergte der Schrank ihre Flaschen. Der Sekretär war aufgestiegen zur Hausbar. Oder vielleicht doch eher abgestiegen? Wie sie?
Jetzt allerdings waren die Flaschen längst leer. Wie sie!
Oder befand sich doch noch etwas darin? In den Flaschen? Oder in ihr selbst? Vielleicht war ja irgendwo noch etwas zusammengeflossen? Das viel zu hastige Öffnen der Klappe und das Fehlen von Öl, ein einziger Tropfen hätte ja schon genügt, um es verstummen zu lassen, ließen die Scharniere durchdringend quietschen. Und auf dem Boden der einzigen Flasche, die im Fach noch ihr Dasein fristete, war kein einziger Tropfen mehr zu entdecken. Oder doch?
Beim Herumdrehen fiel die Flasche zu Boden. Helen gab ihr einen Fußtritt.
„Wir passen zusammen“, sagte sie sarkastisch.
Nun würgte sich doch so eine Art Lachen aus ihrer Kehle. Sie hatte es nicht rechtzeitig verhindern können.
Rücklings ließ sie sich aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Es war ein Rundbett aus besseren (?) Zeiten und stand mitten im Raum.
Roger hatte das so gewollt. Und sie hatten sich oft sinken lassen, von allen Seiten … Sie hatte überhaupt immer alles getan, um Roger bei Laune zu halten. Nicht wie ihre Mutter, die sich irgendwann eine eigene Meinung geleistet und damit (?) den Vater vertrieben hatte.
Helen lächelte böse in sich hinein.
Und nun war also auch Roger verschwunden. Das soll vorkommen. Dass Menschen einfach verschwinden.
Mühsam rappelte sie sich hoch, stolperte mehr als dass sie ging, wieder zum Fenster. Die Dächer der Großstadt verschwammen hinter den dreckigen Scheiben.
Wieso putzte sie die nicht? fuhr es ihr schmerzhaft durch den Kopf. Roger hätte getobt! Aber davor brauchte sie sich ja nun nicht mehr zu fürchten. Davor nicht.
„Die Kunden merken, ob eine sauber ist oder nicht!“, hätte er sie angebrüllt. Aber nun war er ja weg. Verschollen. Seit wann? Das Datum war ihr mittlerweile auch entfallen.
Auf dem Revier hatten die Männer zuerst nur gegrinst, als sie eine Vermisstenanzeige aufgeben wollte.
„Der kommt schon wieder!“
Anscheinend verschwinden dauernd Leute. Das wundert offenbar niemanden mehr.
War sie selbst nicht auch seit langem verschwunden? Jedenfalls für ihre Familie, wobei sie, wie selbstverständlich , wieder nur an ihre Mutter dachte. Roger sei nicht gut für sie, hatte diese zu warnen versucht. Er würde sie nur benutzen, ausnutzen, wenn nicht gar noch Schlimmeres mit ihr anstellen.
Ach Mutter, wenn du wüsstest! dachte sie mit einem leisen Anflug von Wehmut. "Würdest du denn jemals verstehen, wie ergeben, ja hörig, ich diesem Mann war?" Sie hatte wieder einmal laut gedacht, mit kläglich verzogenem Mund, in dem sich die Zunge pelzig wölbte. Sie wäre doch mit ihm bis nach Timbuktu gegangen, jawohl, das hatte sie ihm oft genug ins Ohr geflüstert.
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