Was er sah, blieb für ihn das größte Rätsel seines Lebens. Zu seinen Füßen lag der entseelte Körper des Amerikaners, der am Abend zuvor ein anderes Zimmer genommen hatte. Die Taschen seiner Kleidung waren nach außen gedreht, als hätte sie jemand gründlich durchsucht. Das Genick des Mannes war gebrochen, an der Halsschlagader klaffte eine riesige Wunde. Die alte Dame und ihr Enkel waren verschwunden. Das Fenster stand offen. Die beiden mussten durch das Fenster verschwunden sein, denn der Schlüssel steckte von innen im Schloss.
Wie aber hatte der Junge seine kranke Großmutter zwei Stockwerke tief hinablassen können? Ein unvorstellbarer Gedanke. Wieder durchsuchte Herr Schopf das kleine Zimmer. Er stellte fest, dass das Bett von der Wand gerückt war - warum? Er blickte zum dritten oder vierten Mal unter das Bett und in den Schrank. Die beiden waren fort, und das, obwohl der Verstand Herrn Schopf sagte, dass der Junge seine Großmutter nicht getragen haben konnte. Die weitere Untersuchung ließ das Rätsel noch geheimnisvoller erscheinen. Die gesamte Kleidung der beiden befand sich noch im Zimmer, die Verschwundenen konnten nur ihre Nachtkleider getragen haben. Herr Schopf schüttelte den Kopf, dann kratzte er sich den Schädel. Er hatte nie von Sherlock Holmes gehört, sonst hätte er nicht gezögert, den Meisterdetektiv herbeizurufen, denn hier lag ein wirklich geheimnisvolles Rätsel vor - eine alte Frau, eine Kranke, die vom Schiff zum Hotel gefahren bzw. getragen werden musste, und ihr Enkel hatten am Abend zuvor ein Hotelzimmer im zweiten Stock bezogen. Sie hatten sich das Abendessen auf dem Zimmer servieren lassen, und das war das Letzte, was man von ihnen sah. Um neun Uhr am nächsten Morgen war die Leiche eines Fremden der einzige Bewohner des Raumes. Kein Boot hatte den Hafen inzwischen verlassen, es gab im Umkreis von Hunderten von Meilen keine Eisenbahn, die nächste weiße Siedlung lag so weit entfernt, dass sie nur in drei Tagen harten Marsches erreicht werden konnte, und das mit einer gut ausgerüsteten Safari. Die beiden hatten sich in Nichts aufgelöst, denn der eingeborene Diener, den Herr Schopf nach draußen geschickt hatte, kam mit der Meldung wieder, dass sich keinerlei Fußspuren auf dem weichen Rasen unter dem Fenster befänden. Herr Schopf schauderte. Ja, es war ein großes Rätsel, in dem etwas Unheimliches lag. Der Hotelbesitzer dachte mit Unbehagen an die kommende Nacht.
Hauptmann Armand Jacot von der Fremdenlegion saß auf einer ausgebreiteten Satteldecke am Fuß einer verkümmerten Palme. Seine breiten Schultern und der kurzgeschorene Kopf lehnten lässig am rauen Stamm des Baumes. Die langen Beine waren ausgestreckt, die Sporen hatten sich in den Wüstensand gebohrt. Hauptmann Jacot genoss die Ruhe nach einem langen und anstrengenden Ritt. Lässig rauchte er seine Zigarette und sah der Ordonnanz zu, die das Abendessen zubereitete. Rechts von ihm erfüllte die lärmende Geschäftigkeit seiner Truppe von kampferfahrenen Männern die Luft mit lauten Geräuschen. In ihrer Mitte kauerten gefesselt und scharf bewacht, fünf weißgekleidete Araber.
Der Anblick dieser Männer erfüllte Hauptmann Jacot mit dem beruhigenden Bewusstsein, seine Pflicht erfüllt zu haben. Fast einen ganzen Monat lang hatte er mit seinen Leuten die Wüste nach einer Schar von Banditen durchsucht, die außer zahlreichen Viehdiebstählen mehrere Morde auf dem Gewissen hatten, so dass ihnen die Guillotine sicher war.
Vor einer Woche hatte er sie endlich stellen können. Bei dem Kampf waren zwar zwei seiner Leute gefallen, aber die Verluste der Banditen kamen fast einer völligen Vernichtung gleich; nur ein halbes Dutzend hatte fliehen können. Dass sich der Führer der Banditen, Achmet ben Houdin, unter den Gefangenen befand, erfüllte Jacot mit besonderer Genugtuung.
Von den Gefangenen ließ der Hauptmann seine Gedanken die letzten Meilen in die Garnison schweifen. Im Geiste sah er sich schon von seiner schönen Frau und der kleinen Tochter willkommen geheißen, deren weiche Wangen er an seiner rauen Lederhaut zu spüren glaubte.
Plötzlich wurde er durch laute Rufe aus seiner Träumerei gerissen. Hauptmann Jacot hob den Blick. Die Sonne war noch nicht untergegangen, ließ aber schon die Schatten der kümmerlichen Bäume, der Männer und Pferde weit in die Wüste reichen. Jacots Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Postens, der den Alarm ausgelöst hatte. Er erkannte Reiter in der Wüste, die sich schnell dem Lager näherten. Jacot schickte den Ankömmlingen einen Sergeanten und ein Dutzend seiner Soldaten entgegen. Etwa zweihundert Meter vor dem Lager trafen die beiden Gruppen aufeinander. Jacot sah den Sergeanten in Unterhaltung mit einem hochgewachsenen, weißgekleideten Mann - offensichtlich dem Führer der Gruppe. Der Sergeant und der Araber wandten sich um und ritten Seite an Seite zum Lager. Jacot erwartete sie. Die beiden zügelten ihre Pferde vor ihm und stiegen ab.
»Scheich Amor ben Kathour«, sagte der Sergeant mit einer vorstellenden Geste.
Jacot musterte den Mann. Er kannte fast jeden Scheich im Umkreis von mehreren hundert Meilen. Diesen Mann hatte er noch nie gesehen. Er war hochgewachsen, sein Gesicht war von Wind und Sonne zerfurcht, sein Alter schätzte Jacot auf sechzig oder mehr. Die Augen des Mannes verrieten List und Verschlagenheit.
»Nun?«, fragte der Hauptmann.
Der Araber kam sofort zur Sache. »Achmet ben Houdi ist der Sohn meiner Schwester. Wenn du ihn mir übergibst, werde ich dafür sorgen, dass er sich nicht mehr gegen das französische Gesetz vergeht.«
Jacot schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein«, erwiderte er. »Ich muss ihn mitnehmen. Ein Zivilgericht wird in fairem Verfahren das Urteil über ihn sprechen. Ist er unschuldig, kann er entlassen werden.«
»Und wenn er nicht unschuldig ist?«, fragte der Araber.
»Er ist vieler Morde angeklagt. Gelingt es, ihm nur einen dieser Morde nachzuweisen, muss er sterben.«
Die linke Hand des Arabers war unterm Burnus verborgen gewesen. Jetzt zog er sie mit einem Geldbeutel aus Ziegenleder hervor. Der Beutel war prall gefüllt. Der Scheich öffnete den Beutel und ließ einen Teil des Inhalts auf seine rechte Hand rinnen - alle Münzen waren französische Goldstücke. Aus der Größe des Beutels schloss Jacot, dass sein Inhalt ein kleines Vermögen darstellte. Langsam ließ Scheich Amor ben Kathour die Goldstücke wieder in den Beutel gleiten und verschloss ihn. Während der ganzen Zeit blieb er stumm. Jacot beobachtete ihn genau. Sie waren allein. Der Sergeant, von dem der Besucher ins Lager geleitet worden war, hatte sich zurückgezogen. Plötzlich hielt der Scheich dem Hauptmann den Beutel auf der flachen Hand entgegen.
»Achmet ben Houdin, der Sohn meiner Schwester, könnte heute Nacht entfliehen, nicht wahr?«
Hauptmann Jacots ohnehin dunkles Gesicht färbte sich noch dunkler.
»Sergeant!«, rief er.
Der Sergeant kam herbei und salutierte.
»Bringen Sie diesen Sohn einer Hündin wieder zu seinen Leuten zurück«, befahl Jacot. »Sorgen Sie dafür, dass alle sofort verschwinden. Und schießen Sie heute Nacht auf jeden, der sich dem Lager nähert.«
Scheich Amor ben Kathour richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Seine verschlagenen Augen verengten sich. Er hob den Geldbeutel, bis er sich auf gleicher Höhe wie die Augen des französischen Offiziers befand.
»Du wirst mehr als dieses hier für das Leben Achmet ben Houdins, meiner Schwester Sohn, zahlen«, sagte er. »Und noch einmal so viel für das Wort, mit dem du mich beleidigt hast.«
»Scher dich fort!«, knurrte Jacot. »Verschwinde, bevor mein Fußtritt dich wegbefördert.«
All dies ereignete sich etwa drei Jahre vor dem Einsetzen unserer Geschichte. Die Spuren Achmet ben Houdins und seiner Komplizen lassen sich noch heute verfolgen. Er nahm das Ende, das er verdient hatte, und starb mit dem Stoizismus der Araber.
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