»Wir werden Ihnen ein Zimmer besorgen und dann sollten Sie sich ausruhen. Sie sehen furchtbar aus. Ich fahre derweil zur Dienststelle.«
»Mit Verlaub, Dana, das kann nicht dein Ernst sein!« Georgs Miene hatte sich von Satz zu Satz verfinstert. »Durchaus ziehen wir externe Berater hinzu, aber einen Hellseher?!«
»Er ist kein Hellseher!«
»Nenn ihn, wie du willst, aber das ist Unfug! Wir sind hier nicht in einer dieser unsäglichen Krimiserien, das ist das reale Leben. So etwas gibt es nicht. Grothe hat dir einen Bären aufgebunden.«
Der Staatsanwalt räusperte sich. »Na ja«, sagte er, »das ist nicht ganz richtig. Wir haben Christian Laye tatsächlich in Anspruch genommen.«
Georg schaute ihn an. »Sie waren für den Fall zuständig?«
Der Staatsanwalt nickte.
»Aber wie …?«
»Der Druck war enorm, die Presse, die Politiker, die Bürger, Sie verstehen?«
»Diesen Druck haben wir nicht. Keine Rechtfertigung, einen, … einen, Gott verdammt; Hellseher in die Ermittlungen einzubinden.«
»Noch haben wir diesen Druck nicht, aber wie lange bleibt das so, meinst du?«, fragte Dana.
Georg schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht Herr des Verfahrens und wie soll das später vor Gericht Bestand haben?«
»Angenommen Herr Laye würde uns erneut helfen, hätte ich Möglichkeiten«, sagte der Staatsanwalt.
»Mit anderen Worten, Sie sprechen sich dafür aus?«
»Sagen wir, ich ziehe es in Erwägung. Es ist korrekt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sich die Schlingen um unsere Hälse zusammenziehen. Noch haben wir das, was nach außen dringt, unter Kontrolle. Das kann sich jederzeit ändern. Kommen wir ihnen zuvor und liefern Fortschritte.«
Georg atmete tief ein. »Fortschritte durch seine Hilfe?«
»Ich kann Ihre Skepsis nachvollziehen. Ich denke, Sie sollten ihn kennenlernen.«
»Es wird nichts ändern, Ihr Standpunkt ist deutlich.«
»Trotzdem möchte ich Ihre Zustimmung.«
»Gut«, Georg wandte sich an Dana, »wann kann er hier sein?«
»Er ist schon hier«, antwortete sie.
Tarik und Georg lehnten nebeneinander, mit verschränkten Armen, an einem Schreibtisch. Sie hätten Zwillinge sein können, hätte man es an dem Ausdruck auf ihren Gesichtern bestimmen müssen.
Der Staatsanwalt hatte Christian Laye vorgestellt, ein paar Worte zu der Angelegenheit verloren und sich zurückgezogen.
Nun stand Laye vor der Fotowand und starrte auf die Bilder. Dana gab ihm einen Einblick in den Fall.
Und es geschah nichts. Er hörte ihr zu, aber verdrehte weder die Augen und sprach mit fremder Stimme orakelhafte Sätze, noch sagte er überhaupt etwas.
Beim Verlassen der Dienststelle, griff Tarik ihren Arm und flüsterte: »Du weißt, wie sehr ich dich schätze, also sag mir, was überzeugt dich von diesem Kerl? Hast du erlebt, dass er eine Vision hatte?«
Sie waren stehen geblieben.
»Keine Ahnung, Tarik, es ist ein Gefühl. Ich war skeptisch, als ich zu ihm fuhr. Ich war skeptisch, als er die Tür öffnete und irgendwann, habe ich glauben wollen.«
Was hatte Laye gesagt oder getan, dass sie überzeugt hatte? Nichts! Zumindest nichts, was sie hätte benennen können.
Hatte sie eine Vision miterlebt? Nein!
Vielleicht doch? Was war das während der Fahrt gewesen?
»Nun gut, zumindest scheint er kein aufgedrehter Spinner zu sein, der mit einer Kristallkugel jongliert.«
Dana lächelte bei Tariks Worten; hallo Vorurteile!
»Schaden wird er nicht anrichten, ich behalte ihn im Auge, er ist mir nicht geheuer.«
»Warum findet man ihn nicht, wenn Sie der Meinung sind, er würde sich keine große Mühe machen, seine Taten zu vertuschen?«, fragte Laye, als sie in einem Bistro einen Kaffee tranken.
»Er ist vorsichtig, hinterlässt jedoch Spuren, nur keine, die uns zu ihm führen. Er fühlt sich offenbar durch nichts gestört. Er handelt nach zwei Mustern; drei Leichen hat er inszeniert, an öffentlichen Orten abgelegt, zwei hat er verschwinden lassen, sie wurden zufällig gefunden. Gleiches wollte er wohl auch mit der letzten machen«, antwortete Tarik.
Er empfand es als Schändung allem, was ihm etwas bedeutete. Er sah auf das Meer hinaus und da war nichts mehr. Sie hatten ihm seine Verbindung, seine Erinnerungen geraubt. Sie hatten ihm das Gefühl genommen, sie immer wieder spüren zu können, erneut.
Chris Layes Körper war plötzlich angespannt und ein Zittern durchfuhr ihn. Sein Blick war in die Ferne gerichtet und seine Augen glänzten fiebrig. Sein Atem ging flach.
»Was ist los mit ihm?«, fragte Tarik.
»Keine Ahnung. - Chris?!«
»Sie sind ihm wichtiger, als die anderen«, flüsterte Laye.
»Wer?«
»Er versteckt sie, weil er zu ihnen zurückkehren möchte, um ihnen nahe zu sein.«
»Der Täter? Wem will er nahe sein? Den Toten?«
Die Anspannung wich, seine Atmung normalisierte sich, er schaute sie an. »Ich weiß es nicht.«
Laye war aufgesprungen und hatte das Bistro verlassen, Dana und Tarik waren hinterher. Sie hatte ihn als erstes eingeholt, an der Jacke festgehalten und zum Stoppen gebracht.
»Ich will das nicht, glaube ich«, hatte Laye gesagt.
»Sie haben es an sich herangelassen, werden Sie es wieder los, wenn Sie jetzt verschwinden oder wird es Sie verfolgen?«
Er hatte mit den Schultern gezuckt.
»Sie können was bewirken, Sie können diesen Dämon bekämpfen.«
»Ihren vielleicht, meine nicht.«
»Ich verspreche Ihnen, ich passe auf Sie auf.«
Er hatte aufgelacht. »Das brauchen Sie nicht, das schaffe ich ganz gut alleine.«
»Chris bitte, lassen Sie es uns gemeinsam versuchen.«
Nur schnell einen Kaffee holen, hatte sie gesagt und Tarik saß seit fünf Minuten mit Laye im Auto und wartete. Ihr Schweigen war unangenehm.
Tarik war niemand, den man leicht aus der Fassung bringen konnte, dafür war sein Gemüt zu ausgeglichen, der Mann auf dem Rücksitz jedoch, schaffte es.
Tarik hätte hundert Fragen an ihn gehabt und das Recht, sie zu stellen, dennoch stellte er die, die ihn am meisten beschäftigte.
»Was passiert, wenn Sie die Visionen haben?«
Laye schaute überrascht, Tarik konnte es im Rückspiegel sehen. Überrascht, weil er die Stille durchbrochen hatte oder weil ihn das noch niemand gefragt hatte?
»Ich bin ein Beobachter im Inneren desjenigen, dessen Stück vom Leben ich sehe.«
»Fühlen Sie, was die Person fühlt oder gefühlt hat?«
»Nein, aber ich weiß es.«
»Erfahren Sie etwas Persönliches über sie?«
»Das wäre zu einfach, oder? Ich sehe jene Situation, die ich gezwungen bin, zu sehen, aber ich werde kein Teil von ihnen.«
Tarik zögerte, eine weitere Frage zu stellen, tat es, als er Dana aus dem Imbiss kommen sah.
»Das damals, ich habe gehört, es hat Sie sehr mitgenommen.«
»Was ich sehe, ist in den seltensten Fällen erfreulich. Damit umzugehen, ist nicht einfach.«
Dana stellte die Pappbecher auf dem Autodach ab.
»Sind die Bilder eindeutig?«
Sie öffnete die Beifahrertür.
»Das ist unterschiedlich.«
Dana beugte sich in den Innenraum. »Ich habe euch Kaffee mitgebracht.«
Einen reichte sie nach hinten, mit den anderen setzte sie sich ins Auto und stellte sie in die Getränkehalterung der Mittelkonsole.
»Interpretieren Sie sie dann?«
»Ich gebe weiter, was ich erfahren habe.«
»Worum geht es?«, fragte Dana.
»Um die Art und Weise, wie Herr Laye die Visionen wahrnimmt.«
Er startete den Wagen und fuhr los.
Weniger unheimlich war ihm der Kerl nicht, aber Tarik glaubte zu verstehen, was Dana gemeint hatte, als sie von diesem Gefühl gesprochen hatte.
Mehr, als das Bisherige, musste Laye aber schon bringen. Ein Gefühl zu vermitteln war die eine, ermittlungsrelevante Informationen zu liefern, eine andere Sache.
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