„Gut!“, sagte der alte Brinkmann. Die Genugtuung darüber, dass er seinen Willen durchgesetzt hatte, war in seiner Stimme nicht zu überhören. „Es kann eine ganze Weile dauern, denn noch sind nicht alle Familienmitglieder versammelt. Warten Sie so lange draußen im gegenüberliegenden Salon.“
„Ich warte in meinem Büro. Rufen Sie mich bitte dort an. Hier ist meine Karte.“
Der Alte wollte aufbrausen, aber er beherrschte sich und nahm die Karte entgegen.
„Kommen Sie!“, sagte Kadok zu seinen Leuten und wandte sich dem Ausgang zu.
An der Tür blieb er stehen und drehte sich halb um. „Hoffentlich treffen Sie die richtige Entscheidung. Guten Abend!“
„Bei dem alten Knacker möchte ich auch nicht gern meine Brötchen verdienen müssen“, meinte Inspektor Faber lachend, als er im Wagen des Kommissars von der Villa Brinkmann abfuhr. „Der ist noch gewohnt, alle herumzukommandieren und strammstehen zu lassen. Wenn ich sein Sohn wäre, dann…“
„Dann würden Sie nicht anders handeln als der junge Brinkmann“, fiel ihm der Kommissar ins Wort. „Der alte ist immer noch Chef, und wenn sein Sohn das alles einmal übernehmen soll, muss er eben manchmal in den sauren Apfel beißen.“
„Aber Sie, Chef“, meldete sich Fabers jüngster Kollege zu Wort, “Sie brauchen doch vor dem Alten nicht zu buckeln.“
„Hab ich das, Spier?“
„Sie haben sofort nachgegeben, als der Alte den Innenminister erwähnte.“
„Der Innenminister ist auch Chef der Polizei. Vergessen Sie das nicht!“
„Gerade deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass er die Polizei in ihrer Arbeit behindert.“
„Behindern würde ich das gerade nicht nennen, Spier. In zwei Monaten wird der neue Landtag gewählt. Da kann der Innenminister gerade jetzt am allerwenigsten einen Skandal gebrauchen.“
„Was für ein Skandal?“
„Nun, nehmen wir an, die Entführer bekommen Wind davon, dass die Polizei sich eingeschaltet hat. Was dann?“
„Dann werden sie sich wahrscheinlich so bald nicht trauen, das Kind gegen das Lösegeld auszutauschen“, fiel Faber ein.
„Richtig“, nickte Kadok, “und dann würde alle Welt sagen: Die Polizei ist schuld.“
„Es kann aber genauso gut sein“, entgegnete Spier, „dass die Polizei das Kind und die Verbrecher findet, noch ehe der Termin zur Zahlung des Lösegeldes verstrichen ist.“
„Ja, das kann sein“, antwortete Kadok nachdenklich. „Es kann aber auch sein, dass den Gangstern der Boden zu heiß wird. Sie wechseln dauernd ihren Aufenthaltsort und melden sich mal von hier, mal von dort – ständig in Gefahr, von der Polizei überrumpelt zu werden. Ein kleiner Junge von vier Jahren muss dabei für sie wie ein Klotz am Bein sein. Sie sind beweglicher und darum weniger in Gefahr ohne den Jungen. Also bringen sie ihn um, verscharren seine Leiche – und erpressen die armen Eltern nach wie vor durch Anrufe oder Briefe. Und wenn wir sie dann eines Tages endlich schnappen – ohne das Kind? Dann wird man nicht viel darüber reden, dass die Polizei die Verbrecher gefasst hat. Das erwartet man von der Polizei, das ist ihre Pflicht. Nein, man wird viel mehr über das arme, unschuldige Kind reden und der Polizei die Schuld dafür geben, dass es ermordet wurde.“
Die letzten Worte hatte der Kommissar nicht ohne Verbitterung gesprochen, aber schon im nächsten Augenblick schüttelte er die Erregung mit einem Achselzucken ab und seufzte:
„Tja, so ist das nun mal, wenn man bei der Kriminalpolizei ist. Berufsschicksal!“
„Sie sehen die Sache zu schwarz, Chef“, wandte Spier ein.
„Ich gäbe Ihnen gern recht, wenn ich könnte. Zu ärgerlich, dass wir so viel Zeit verlieren - gerade jetzt, wo die Fährte noch heiß ist.“
„Können wir nicht trotzdem schon etwas unternehmen?“, fragte Faber. „Ich meine, auf eigene Kappe?“
„Nein, warten wir erst ab, was die Brinkmanns beschließen.“
„Das kann ich mir schon denken“, sagte Spier missmutig.
„Ich leider auch“, seufzte Kadok. „Aber wir können inzwischen versuchen, dem alten Brinkmann zuvorzukommen.“
Faber horchte auf. „Womit, Chef?“
„Der Innenminister und der Polizeipräsident sind frühere Studienkollegen. Ich werde den Polizeipräsidenten bitten, beim Minister anzurufen – in unserem Sinne. Wenn dann der alte Brinkmann beim Minister anruft -“
„Sie glauben, dass er das tut?“
„Ich bin überzeugt davon, Spier. Wenn er ihn also anruft, vielleicht gelingt es dann dem Minister, ihn zu überzeugen, dass in einem solchen Fall die Polizei eingeschaltet werden muss.“
Kadoks Hoffnung erwies sich leider als Wunschtraum. Als er eine halbe Stunde später sein Büro betrat, meldete ihm der diensthabende Wachtmeister, vor wenigen Minuten habe der Polizeipräsident den Kommissar sprechen wollen, Kadok solle ihn sofort anrufen.
„Gut, dass ich Sie so schnell erreiche“, erklärte der Polizeipräsident erleichtert, als Kadok sich meldete. „Ich habe eben einen Anruf des Innenministers erhalten.“
„In der Entführungssache Brinkmann?“
„Ja, woher wissen Sie das?“, wunderte sich der Polizeipräsident.
„Das war zu erwarten nach meiner Auseinandersetzung mit dem Seniorchef der Brinkmann-Familie.“
„Hören Sie, Kadok, es ist mir äußerst peinlich, Ihnen das zu sagen, aber die Familie hat sich beim Minister über Sie beschwert.“
„Wenn’s nur das ist“, brummte der Kommissar, „dann ist jedes weitere Wort überflüssig. Ich kenne eine Menge Leute, die sich über die Polizei beschweren – besonders über mich.“
„Darum geht’s im Grunde genommen gar nicht. Die Brinkmanns haben vom Minister die Vollmacht erhalten, wegen der Rückkehr des Jungen mit den Entführern frei zu verhandeln.“
„Verdammt noch mal!“, entfuhr es dem Kommissar.
„Was meinen Sie?“
„Ach nur… ich finde es schade, dass die Brinkmanns mir zuvorgekommen sind. Ich wollte Sie, Herr Polizeipräsident, gerade anrufen und Sie bitten, den Minister dahingehend zu beeinflussen, dass die Polizei auf jeden Fall eingeschaltet werden muss.“
„Das ist jetzt nicht mehr möglich.“
„Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Minister eine Anordnung rückgängig macht.“
Der Polizeipräsident fühlte sich unbehaglich. Kommissar Kadok war sein bestes Pferd im Stall, und im Grunde gab er ihm völlig recht. Aber andererseits konnte er sich auch schlecht dem Minister widersetzen. Er hatte zwar seine Einwände und Bedenken erhoben – aber vergebens. Nun versuchte er, den Kommissar zu beschwichtigen.
„Mein lieber Kadok“, begann er betont ruhig, „wir bewegen uns hier auf einem besonders glatten Parkett. Bei den Brinkmanns haben wir es nicht mit gewöhnlichen Leuten zu tun, sondern mit einer der großen Industriellenfamilien, deren Verbindungen zu den höchsten Regierungskreisen und Behörden Takt und Diplomatie dringend erforderlich machen.“
„Das ist mir alles bestens bekannt, Herr Polizeipräsident. Es war mir jedoch bisher unbekannt, dass es taktlos und undiplomatisch ist, wenn die Polizei Verbrecher verfolgt, um das Leben eines unschuldigen Kindes zu retten.“
„So dürfen Sie die Sache nicht sehen. Die Familie Brinkmann hat vorhin beschlossen, die Polizei aus dem Fall herauszuhalten und genau das zu tun, was die Kidnapper fordern. Den Brinkmanns geht es dabei nur um das Kind: ein Motiv, das man menschlich durchaus verstehen kann – auch wenn es einem Kriminalbeamten gegen den Strich geht.“
„Und was soll ich in der Zwischenzeit tun? Däumchen drehen?“
„So wie ich Sie kenne, mein lieber Kadok, haben Sie noch nie Däumchen gedreht. Und was die Vollmacht des Innenministers betrifft: Die Brinkmanns sind nur berechtigt, frei wegen der Rückkehr des Jungen zu verhandeln. Wir müssen den Eltern die Möglichkeit einräumen, ihr Kind zurückzubekommen, ohne dass sie sich wegen eines amtlichen Eingriffs Sorgen zu machen brauchen. Was dann geschieht, ist Sache der Polizei – Ihre Sache, Kadok!“
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