Gisela Mertens schaltete sich ein. Sie hockte sich vor Carola hin und redete beruhigend auf sie ein:
„Sei nicht eingeschnappt, Carola, Tante Katja hat es nicht so gemeint. Sie macht sich Sorgen um Erich, deshalb ist sie so aufgeregt. Bitte, sag mir, was für ein Mann das war!“
„Ein netter Mann“, antwortete das Mädchen, dem es offensichtlich gefiel, so gebeten zu werden.
„Kennst du den Mann?“
„Nein, ich hab den Mann noch nie gesehen.“
„Ich auch nicht, aber er sah wirklich nett aus.“ Es war der siebenjährige Klaus, der sich so unvermittelt zu Wort meldete. Er hatte vorhin gehört, wie das Kindermädchen seinen jüngeren Bruder rief, und war jetzt neugierig von der der Rutschbahn zum Sandkasten geeilt.
Katja Ellscheid spürte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte. Sie ahnte, was geschehen war, aber noch wehrte sie sich gegen diese furchtbare Wahrheit.
„Klaus, hast du genau gesehen, dass Erich mit einem Mann fortgegangen ist?“, fragte sie.
„Ja“, nickte der Junge. „` Komm mit, ich zeig dir auch was Schönes!´ hat der Mann gesagt. Und dann sind sie dort hinter den Büschen verschwunden.“
„Mein Gott!“, schrie Katja zitternd. „Mein Gott, das – das kann doch nicht wahr sein!“
Sie stürzte auf die Büsche zu und weiter zu dem Zaun aus Maschendraht, der durch eine Hecke aus Maulbeersträuchern verdeckt war. Aber da – in der Hecke war eine Lücke und im Draht ein Loch! Jemand musste den Maschendraht hier zerschnitten und weggerissen haben. Katja bückte sich und kroch hindurch. Die Lücke führte in verlassene Gärten. Auf der anderen Seite der Gärten sah sie ein Tor, aber so weit kam sie nicht mehr. Denn vor ihr im Gras lag ein weißer Briefumschlag, auf dem in großen roten Buchstaben stand:
„HERRN BERTHOLD BRINKMANN
SEHR DRINGEND!“
Mit zitternden Händen hob sie ihn auf. Ihre Finger verkrampften sich, als hielten sie ein Messer oder einen scharf geladenen Revolver. Ein paar Augenblicke lang stand sie starr da, unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Dann wurde ihr das Unfassbare, das Schreckliche in seiner ganzen Tragweite bewusst: Ein furchtbares Verbrechen war geschehen, und sie musste jetzt alle ihre Kräfte zusammennehmen, um die ersten wichtigen Schritte zur Aufklärung zu tun.
Sie kroch durch das Loch im Zaun zurück und rannte, mit dem Brief in der Hand, über den Golfplatz aufs Klubhaus zu. Schon von weitem erkannte sie Frau Brinkmann, die ihre Golfpartie beendet hatte und gerade zusammen mit einem Ehepaar die Treppen der Veranda hinaufstieg.
„Frau Brinkmann!“, rief Katja. „Frau Brinkmann…!“
Verwundert blieb die Angerufene stehen und drehte sich um. Sie wartete, bis das Kindermädchen näher gekommen war.
„Was ist los, Katja? Warum rennen Sie denn so?“
„Erich – eh – Erich…“ Sie rang nach Luft. Atemnot und Angst schnürten ihr die Kehle zu.
„Was ist mit Erich?“, unterbrach Frau Brinkmann sie, aufgeschreckt durch das seltsame Verhalten. „Hat er sich verletzt?“
„Erich ist verschwunden!“
„Was heißt `verschwunden´?“
Katja würgte, als habe sie einen Kloß im Hals. „Ent – entführt!“
„Erich entführt…? Was – was heißt das?“
„Ein Mann hat ihn mitgenommen.“
„Aber das hätten Sie doch verhindern müssen!“
„Ich, ich hab es doch gar nicht gesehen. Die Kinder – ja, Klaus und die kleine Carola haben beobachtet, wie ein Mann den Jungen hinters Gebüsch gelockt hat und…“
„Hinters Gebüsch gelockt… Mein Gott, was ist Erich passiert?“
Frau Brinkmann spürte, wie ihr die Kräfte schwanden. „Nur das nicht“, sagte sie sich. „Nur das nicht! Mein Kind ist in Gefahr, ich muss jetzt einen klaren Kopf behalten…“
Mit aller Gewalt zwang sie sich zur Ruhe.
„Wo ist er jetzt?“
Katja zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“ Erst jetzt fiel ihr der Brief wieder ein, den sie noch immer in der Hand hielt. „Hier, diesen Brief habe ich gefunden.“
Hastig riss Frau Brinkmann den Umschlag auf und begann zu lesen. Zwei, drei Sätze hätte sie vielleicht noch richtig erfasst, aber dieser lange Text verwirrte sie. Schon nach der ersten Zeile schwirrten ihr die Buchstaben vor den Augen. Sie las und begriff doch nicht, was da stand. Nur eines erfasste sie sofort: Erich, ihr kleiner Junge, befand sich in der Hand von gemeinen Verbrechern!
Mit vor Angst weit aufgerissenen Augen beobachtete das Kindermädchen, wie Frau Brinkmann den Brief las. Genauso ungeduldig stand das Ehepaar Kunert dabei, mit dem Frau Brinkmann vom Golfspielen zurückgekommen war.
„Na, was steht drin?“, drängte der Mann. “Eine Nachricht von den Gangstern?“
Zitternd hielt Frau Brinkmann ihm den Brief hin. „Bitte, lesen Sie, ich kann nicht. Ich verstehe nicht, was die wollen.“
Kunert nahm Umschlag und Brief. Zusammen mit seiner Frau warf er einen raschen Blick darauf und las dann langsam vor, wobei er mehrmals stockte:
„LIEBER HERR BRINKMANN!
FOLGENDES WERDEN SIE IN DEN ZEITUNGEN LESEN KÖNNEN, WENN SIE UNS ZUM NARREN HALTEN WOLLEN:
`DAS KIND BRINKMANN, VIER JAHRE ALT, IST NACH ENTSETZLICHEN FOLTERUNGEN GESTORBEN, WEIL SEINE LIEBEN ELTERN SICH GEWEIGERT HABEN, SICH VON 1 MILLION DM ZU TRENNEN – ODER WEIL SIE ZU VIEL MIT DER POLIZEI GESPROCHEN HABEN.´
ICH MÖCHTE IHR KIND NICHT IN RUDIS OBHUT GEBEN. RUDI IST EIN GUTER KERL! ABER ETWAS VERRÜCKT, VERSTEHEN SIE?
WENN SIE IHR KIND WIEDERSEHEN WOLLEN, MÜSSEN SIE UNSERE BEFEHLE GENAU BEFOLGEN. SOBALD SIE ES WIEDERHABEN, KÖNNEN SIE, WENN SIE WOLLEN, MIT DER POLIZEI REDEN – ABER NICHT VORHER…!
VERSCHAFFEN SIE SICH DIE 1 MILLION IN SCHEINEN ZU DM 100,-- UND DM 50,--.ALLE SCHEINE MÜSSEN ABGEGRIFFEN SEIN! WIR NEHMEN KEINE NEUEN! WENN SIE SICH DIE NUMMERN NOTIEREN ODER DIE SCHEINE MARKIEREN, VERLIEREN SIE IHR KIND. ES WIRD IHNEN ERST ZURÜCKGEGEBEN, NACHDEM SIE DAS GELD AUSGEHÄNDIGT HABEN. WIR WERDEN UNSEREN TEIL DER AKTION SEHR RASCH DURCHFÜHREN. WIR GEBEN IHNEN 48 STUNDEN ZEIT, DEN BETRAG ZU BESCHAFFEN. LEGEN SIE DAS GELD IN EINE AKTENMAPPE, DIE VERSPERRT IST, UND BEHALTEN SIE DEN SCHLÜSSEL BEI SICH. WARTEN SIE DANN AUF NEUE WEISUNGEN. WIR WERDEN SIE IN DEN NÄCHSTEN 48 STUNDEN ZU HAUSE ANRUFEN UND – VERGESSEN SIE NICHT, DASS DAS LEBEN IHRES KINDES NUR VON IHREM EIGENEN VERHALTEN ABHÄNGT…! HERR BRINKMANN, SEIEN SIE VERNÜNFTIG! WIR VERTRAUEN AUF IHRE VORSICHT, FOLGEN SIE UNSEREN WEISUNGEN BUCHSTABENGENAU…!!!“
„Das ist ja entsetzlich“, entfuhr es Frau Kunert, nachdem ihr Mann das letzte Wort des Briefes vorgelesen hatte.
Kunert nickte ernst. „Ja, Frau Brinkmann, Sie sollten sofort die Polizei verständigen. Je heißer die Spur noch ist, desto besser für die Polizei.“
„Sie haben doch selbst gelesen, was die Verbrecher schreiben. Nein, keine Polizei! Ich muss sofort meinen Mann anrufen.“
Sie stürzte ins Klubhaus, gefolgt von den Kunerts und dem Kindermädchen. Der Weg zur Fernsprechzelle war ihr zu weit. Sie lief auf den Bartresen zu, wo ein zweites Telefon auf dem Seitenbord stand.
„Ich muss sofort meinen Mann sprechen!“, rief sie dem Barmixer zu. „Wähen Sie! Wählen Sie rasch!“
Verwirrt hob der Barmixer den Hörer ab. „Welche Nummer, bitte?“
„Die im Büro, natürlich!“, antwortete sie.
„Lassen Sie, ich mach das schon“, erklärte Kunert dem Barmixer. „Ich weiß sie auswendig.“
Er drückte auf die Tasten und wartete das Amtszeichen ab. Als sich am anderen Ende die Fernsprechzentrale im Brinkmann-Konzern meldete, gab er den Hörer an Frau Brinkmann weiter.
„Bitte, meinen Mann!“, schrie sie in die Sprechmuschel. „Dringend, verstehen Sie, sehr dringend!“
Ein Klicken – dann hörte sie die ruhige Stimme ihres Mannes:
„Was is denn los, Liebling? Bist du noch auf dem Golfplatz oder schon…?“
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