„Erich ist entführt worden!“, fiel sie ihm ins Wort.
„Was ist?“
„Sie wollen ihn umbringen, wenn wir nicht bezahlen. Mein Gott, was sollen wir nur machen? Ob das Kind überhaupt noch lebt? Nun sag doch was, Berthold! Warum sagst du nichts?“
Sie hatte die Sätze rasch aus sich herausgestoßen, mehr schreiend als verständlich sprechend. Brinkmann hatte seine Frau noch nie so erregt reden hören, und diese Erregung sprang auch auf ihn über. Was er eben gehört hatte, erschien ihm so unfassbar, dass er es nicht gleich begriff.
„Was ist eigentlich los?“, rief er zurück. „Entführt…? Unser Junge…? Von wem denn? Wie – wie ist das möglich? Ich denke, du warst bei ihm – oder das Kindermädchen. Und woher weißt du das alles?“
„Ich – ich - - der Brief hier. Ja, es steht alles in dem Brief.“
„Was steht in dem Brief? In welchem Brief überhaupt?“
Brinkmann wurde nicht klug aus den Wortfetzen. Statt einer Antwort hörte er jetzt nur das haltlose Schluchzen seiner Frau.
„Sprich doch, Ilse, sprich doch! Was ist los?“
Aber sie konnte nicht mehr sprechen, die Tränen erstickten ihre Stimme.
Behutsam nahm Kunert ihr den Hörer aus der Hand. „Gestatten Sie bitte!“ Dann meldete er sich: „Hallo, Herr Brinkmann, hier spricht Kunert.“
„Ja, was ist denn los? Erich entführt – stimmt das? Wissen Sie was Genaues? Wann – wo – von wem?“
„Bitte, ich weiß auch nicht alles, eben erst habe ich es erfahren. Aber was ich weiß, will ich Ihnen sagen. Ja, ihr Sohn Erich ist entführt worden. Von wem – das weiß im Augenblick noch niemand. Die Entführer haben Ihnen einen Brief geschrieben.“
„Was steht darin?“
„Ihre Frau hat den Brief geöffnet. Wenn Sie erlauben, will ich Ihnen alles genau vorlesen.“
„Ja, lesen Sie, lesen Sie schon!“
Doch nicht nur Brinkmann hörte zu – auch die rund zwanzig Personen, die sich um diese Zeit in der Bar des Klubhauses aufhielten. Sie waren schon vorher von ihren Plätzen aufgesprungen und drängten sich um den Tresen.
Kunert hörte, wie Brinkmann am anderen Ende der Leitung schwer atmete. „Bitte, sorgen Sie dafür, dass meine Frau mit Klaus und dem Kindermädchen sofort nach Hause kommt. Das ist besser, als dass ich erst noch zum Klub hinausfahre.“
„Ja, selbstverständlich, und wenn ich Ihnen sonst irgendwie behilflich sein kann…“
„Danke, ich veranlasse schon alles von hier aus. Kann ich meine Frau noch mal eben sprechen?“
Kunert warf einen Blick zur Seite, dann antwortete er: „Ich glaube, jetzt besser nicht.“
„Ich verstehe. Ich denke, in einer halben Stunde kann meine Familie zu Hause sein, sie hat ja den Fahrer dabei. Ich werde dann auch dort sein.“
Kunert hielt den Hörer so lange in der Hand, bis er hörte, dass der andere aufgelegt hatte.
Was er jedoch nicht hörte, war, dass Brinkmann den Hörer sofort wieder abhob und sich durch seine Telefonzentrale mit der Kriminalpolizei verbinden ließ. Zitternd vor Erregung und von den schlimmen Drohungen gegen seinen Sohn erschüttert, berichtete er, was er soeben erfahren hatte. Er bat die Polizei zunächst einmal zu sich nach Hause, wo er sie und seine Familie erwarten werde. Bis dahin solle sie strengstes Stillschweigen wahren.
Dann verständigte er telefonisch seinen Vater, seine Schwiegereltern, seinen jüngeren Bruder und seine Schwester. Sie sollten alle so rasch wie möglich in seine Wohnung kommen, um im Familienkreis gemeinsam zu entscheiden, was man unternehmen solle, um Erich heil und sicher zurückzuerhalten.
Kommissar Kadok greift ein
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Als Brinkmann in den Park seiner Villa einbog, sah er schon auf der Auffahrt einen Wagen stehen, der ihm unbekannt war. Sobald er das Empfangszimmer betrat, erhoben sich drei Männer von ihren Plätzen.
„Verzeihen Sie, meine Herren, dass ich Sie haben warten lassen“, sagte er. „Sie sind sicher von der Polizei?“
Der älteste der drei Männer nickte. „Ja, gestatten Sie, dass ich uns vorstelle. Ich bin Kommissar Kadok, und das sind zwei meiner Mitarbeiter, die Inspektoren Faber und Spier.“
„Ich freue mich, dass Sie den Fall übernehmen. Obwohl ich viel lieber nicht Ihre Bekanntschaft gemacht hätte – unter diesen Umständen.“
„Verstehe, Herr Brinkmann. Ich will nur hoffen, dass Sie diese Bekanntschaft nicht in unangenehmer Erinnerung behalten werden.“
„Was ist, Herr Kommissar, glauben Sie, dass mein Sohn noch lebt?“
„Ganz bestimmt!“
„Werden Sie ihn finden?“
„Das hängt ganz von Ihnen ab – und von Ihrer Familie. Den ersten Schritt, Ihren Sohn zurückzubekommen, haben Sie bereits getan.“
„Welchen Schritt meinen Sie?“
„Indem Sie die Polizei verständigt haben – trotz der Drohung durch die Entführer!“
„Es war eine spontane Reaktion. Als ich die Nachricht erhielt, packte mich so sehr die Wut auf diese Verbrecher, dass ich sofort die Polizei anrief. Jetzt allerdings“, gestand er kleinlaut, „jetzt bereue ich es schon fast.“
„Aus welchem Grund?“
„Ich glaube, ich habe vorschnell gehandelt. Ich hätte abwarten sollen, was unser Familienrat dazu sagt.“
„Ich denke, es ist Ihr Kind, Herr Brinkmann?“
„Ja, das schon, aber…“
„Und Ihre Frau, wie denkt sie darüber?“
„Ich weiß nicht, ich habe nur ein paar Worte mit ihr am Telefon gesprochen, sie war zu aufgeregt.“ Er warf einen Blick auf die Wanduhr. „Meine Frau muss jeden Augenblick hier sein, zusammen mit meinem anderen Sohn und dem Kindermädchen.“
In diesem Augenblick hörten sie einen Wagen vorfahren.
„Ich glaube, da sind sie schon“, sagte Brinkmann und eilte in die Halle.
Weinend fiel Frau Brinkmann ihrem Mann um den Hals. „Es ist so furchtbar – ich – ich kann es noch immer nicht fassen!“
Er drückte sie zärtlich an sich und versuchte, sie zu trösten:
„Es wird alles wieder gut, glaub mir, es wird alles wieder gut.“
Aber er spürte, dass dies kein Trost war und er selbst Trost und Mut bitter nötig hatte.
Betreten und mit scheuem Blick war das Kindermädchen am Eingang stehen geblieben, niedergeschlagen durch ein Schuldgefühl, das sie seit der Entdeckung des Verbrechens gefangen hielt.
Nur der kleine Klaus schien sich der Tragweite dieses Verhängnisses nicht bewusst zu sein. Für ihn war das alles eine aufregende Räubergeschichte, wie man sie sonst nur im Fernsehen erlebte. Er tat sich wichtig, als er seinem Vater stolz berichtete:
„Papi, hab den Mann genau gesehen. Erich hatte überhaupt keine Angst, er ist sofort mit ihm gegangen.“
Inzwischen war auch Kadok in die Halle getreten, und als Klaus ihn jetzt bemerkte, fragte er seinen Vater erstaunt:
„Wer ist denn der Mann da?“
Brinkmann drehte sich um. „Ach so ja“, sagte er, zu seiner Frau gewandt, „ich habe ganz vergessen, dass wir Besuch haben. Kommissar Kadok und zwei seiner Leute.“
„Polizei…?“, fragte seine Frau entsetzt.
Kadok trat näher. „Ja, gnädige Frau, für Verbrechen ist die Polizei zuständig.“
„Diese – diese Leute haben doch ausdrücklich verlangt, dass die Polizei aus dem Spiel bleibt.“
„Das möchten Verbrecher immer gern.“
„Aber in dem Fall…! Es geht um das Leben unseres Kindes.“ Tränen traten erneut in ihre Augen.
„Bitte, beruhige dich doch!“, redete ihr Mann beschwichtigend auf sie ein.
„Ich weiß, wie schwer es für Sie ist“, sagte Kadok. „Aber eben weil es um das Leben Ihres Kindes geht, sollten Sie die Polizei einschalten. Ihr Mann sprach von einem Brief, den die Entführer geschrieben haben. Darf ich ihn bitte mal sehen?“
Sie zögerte, und unwillkürlich drückte sie ihre Handtasche fester an sich. Doch sie nahm den Brief heraus.
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