Wolfsnacht
Novelle
Helmut Höfling
published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Copyright: © 2014 Helmut Höfling
ISBN 978-3-8442-6657-3
Der Krieg lag in den letzten Zügen. Stumpf und müde lebten die Menschen dahin. Berge von Toten türmten sich ringsum, Millionen Opfer an den Fronten und in der Heimat.
Frieden!
Das war die Sehnsucht aller. Aber nicht alle verstanden das Gleiche darunter.
Für die einen bedeutete Frieden das Ende des Krieges – auch um den Preis der Niederlage.
Für die anderen aber gab es nur Frieden nach einem Sieg, obwohl dieser Sieg längst verspielt war. Sie spürten es, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollten, und deshalb hatten sie Angst vor dem Frieden, den die anderen als Erlösung empfanden.
Weit waren die alliierten Truppen schon auf deutschem Gebiet vorgestoßen. Längst war der Krieg verloren. Aber wer den Frieden fürchtete, der versuchte ihn möglichst lange hinauszuschrieben – Woche für Woche, Tag für Tag, Stunde für Stunde.
So ging das sinnlose Morden weiter: an den Fronten ringsum und in den verwüsteten Städten der Heimat. Immer wieder brachten amerikanische und englische Bomberverbände Tod und Verderben über die geschundene Zivilbevölkerung – über Männer, Frauen und Kinder.
Niemand schonte niemanden.
Jeder jagte jeden.
Die Menschen waren zu Wölfen geworden.
Nacht über der Stadt. Irgendwo im Westen des Großdeutschen Reiches, das nun so klein geworden war.
Schlaf ließ die meisten Einwohner vergessen, dass jeder Atemzug der letzte sein konnte.
Da plötzlich heulten die Sirenen: Fliegeralarm. Die Träume zerrissen, die Wirklichkeit hielt die Menschen umklammert mit Angst und Schrecken, mit Tod und Verderben.
Die alte Frau fuhr in ihrem Bett hoch, als habe sie auf dieses Warnzeichen gewartet.
„Fliegeralarm!“, schrie sie.
Aber der Mann neben ihr schlief weiter. Sein Atem rasselte schwer.
Sie war rasch aufgestanden und rüttelte ihn wach. „Hörst du, Franz?“
„Was?“, fragte er im Halbschlaf.
„Sie kommen wieder.“
Endlich wachte er auf und hörte nun auch die Sirenen. „Ach, jede Nacht dasselbe!“
„Nun zieh dich doch schon an!“
„Ich bin ja dabei“, brummelte er misslaunig.
„Aber rasch!“
Die beiden alten Leute brauchten kein Licht. Sie fanden sich auch im Dunkeln zurecht. Jeder Griff, jede Bewegung wirkte wie eingedrillt. Keiner hätte mehr sagen können, wie oft sie schon in den vergangenen Jahren aus dem Bett getrieben worden waren, in den letzten Monaten fast jede Nacht.
Draußen klopfte jemand laut an ihre Zimmertür.
„Fliegeralarm, Her Pilgram!“
„Ja, danke, wir haben es schon gehört“, antwortete die alte Frau.
„Und kommen Sie sofort in den Luftschutzkeller!“
„Ja, ja, Herr Schmeer“, rief der alte Mann ihm zu, “in ein paar Minuten.“
Der andere draußen war schon weitergeeilt. Es gab noch mehr Wohnungen in dem Miethaus, und er achtete immer streng darauf, dass alle rasch den Schutzraum aufsuchten, so wie es vorgeschrieben war.
„Der ist immer der Erste“, sagte Frau Pilgram zu ihrem Mann, während sie sich die Strümpfe überstreifte.
„Er geht ja auch mit seinem Drillichanzug ins Bett. Nur noch Koppel um, Stiefel an und Stahlhelm auf – fertig!“
„Er nimmt seine Aufgabe als Luftschutzwart eben ernst.“
Pilgram brummte zustimmend.
„Nun mach doch voran, Franz!“
„Ich kriege die Schuhe wieder nicht an.“
Er stöhnte, wie immer wenn er sich bückte.
„Die anderen Leute im Haus sind sicher längst fertig“, drängelte sie.
„Ach, glaub das doch nicht…!“
Luftschutzwart Schmeer brauchte niemanden zu wecken. Das Geheul der Sirenen hatte alle Leute im Haus aus dem Schlaf gerissen, auch das Pärchen im obersten Stock.
„Was ist denn los, Mädchen?“, fragte der junge Mann seine Freundin, die aus dem Bett sauste, als habe man einen Eimer kaltes Wasser über sie gegossen.
„Alarm! Das hörst du doch.“
Sie hatte als Erstes auf den Lichtschalter neben der Tür gedrückt.
„Knips doch das Licht aus!“, fuhr er sie an.
„Dann find ich doch nichts im Kleiderschrank.“
Der junge Mann hatte sich im Bett halb aufgerichtet. Er schaute gerne zu, wie seine Hanne vor dem Schrank stand und ein Kleid vom Bügel nahm.
„Mach keine Zicken und komm wieder ins Bett!“, sagte er verlangend.
Sie schüttelte den Kopf und suchte hastig ihre Sachen weiter zusammen, als plötzlich jemand vom Hof aus wütend brüllte:
„Licht aus!“
„Da hörst du’s“, sagte der junge Mann grinsend. „Das Fenster steht auf – und du machst Licht.“
„Ich hab nicht dran gedacht, dass nicht verdunkelt ist.“
„Licht aus!“, klang es erneut.
„Ja doch, verdammter Hosenscheißer!“, rief der junge Mann dem Unbekannten zu. Er schloss selbst das Fenster und ließ den Verdunkelungsrolladen herunter. Jetzt fiel kein Lichtschein mehr nach draußen.
„Die Arschlöcher sind alle hysterisch“, sagte er zu seiner Freundin Hanne.
„Danke! Ich möchte keine Bombe auf den Kopf kriegen.“
Mit dem einen Arm, den ihm die Granate in der Schlacht auf der Krim nicht weggerissen hatte, zog er das Mädchen an sich.
„Ach, komm doch endlich wieder ins Bett, Hanne.“
„Nein, Günther, geh mit mir in den Luftschutzkeller.“
Sie versuchte sich aus seinem Griff zu befreien, aber als er sie wild küsste, erlahmte ihr Widerstand.
„Komm schon“, flüsterte er, „ich bin grad so richtig in Fahrt. Und wenn wir schon hops gehen müssen, dann lieber im Bett als da unten im Keller mit den Idioten…“
Inzwischen hatte sich das alte Ehepaar fertig angezogen.
„Hast du den Koffer, Franz?“
„Ja.“
Es war immer dieselbe Frage, die Frau Pilgram ihrem Mann stellte, bevor sie die Wohnung verließen, um den Luftschutzraum aufzusuchen. Und es war auch noch immer derselbe Koffer mit dem Sparbuch, den wichtigsten Dokumenten und Papieren sowie mit denselben Kleidungsstücken für sie und ihn – wie vor Jahren, als die Amerikaner die ersten Bomben über der Stadt abgeworfen hatten. Wenn das Haus über ihnen abbrennen oder in Trümmer fallen würde und sie im Luftschutzkeller mit dem Leben davonkommen sollten, dann hatten sie wenigstens noch die paar Habseligkeiten im Koffer gerettet.
Vor Wochen hatten sie ihre alte Wohnung räumen müssen, nachdem eine Luftmine in der Nachbarschaft detoniert war. Ringsum waren die Häuser eingestürzt oder baufällig geworden. Nur wenige Möbel, Wäsche und Kleinigkeiten hatten die alten Leute noch in das jetzige Zimmer mitnehmen können, das ihnen der Luftschutzwart in seiner Wohnung überlassen hatte.
„Nanu, wo ist er denn nur?“, fragte Frau Pilgram aufgeregt. Sie sprach mehr zu sich als zu ihrem Mann.
„Was suchst du denn?“
„Meinen Stock.“
„Da hängt er doch.“
„Wo?“
„Am Stuhl.“
Die alte Frau sah ihn jetzt auch, obwohl noch immer kein Licht in ihrer Wohnung brannte. Der Mondschein, der durch die nicht verdunkelten Fenster fiel, ließ genug im Zimmer erkennen.
„Haben wir jetzt alles?“, fragte Frau Pilgram ihren Mann.
„Ja.“
„Dann komm, Franz!“
Die eiligen Schritte von Menschen, die in den Keller hasteten, drangen vom Treppenhaus in die Wohnung. Als Frau Pilgram die Tür öffnete, begegnete sie Frau Diedenhofen mit ihrem Säugling im Arm.
„Was macht der Kleine?“
„Er schläft wie immer. Der hat sich schon dran gewöhnt.“
Die junge Mutter zupfte an der Wolldecke, in die sie ihr Kind gewickelt hatte, und ging weiter. Die beiden Alten folgten ihr, wenn auch langsamer. Selbst mit dem Stock fiel Frau Pilgram jeder Schritt schwer.
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