Der kurze Wortwechsel hatte die Aufmerksamkeit der anderen Hausbewohner erregt.
„Wer ist denn da?“, fragte die Hausmeisterin den Luftschutzwart neugierig.
„Herr Rehfisch.“
„Unerhört!“, brauste Dr. Schunck auf.
Auch seine Frau empörte sich, als habe man es mit einem Verfemten zu tun:
„Was fällt dem überhaupt ein!“
„Haben Sie ihn denn nicht reinkommen sehen?“, wunderte sich Schmeer.
Der Studienrat schüttelte den Kopf. “Wir nicht – meine Frau und ich.“
„Ich auch nicht“, versicherte die Hausmeisterin, „sonst hätte ich ihm längst gesagt, wo er hingehört.“
„Sitzen Sie vielleicht schon die ganze Nacht hier?“, fragte der Luftschutzwart den Mann streng, als handle es sich um ein Verhör.
„Ja“, klang es leise, „ich habe so ein unangenehmes Gefühl gehabt, dass heute was passiert. Und deshalb dachte ich, weil die Front doch so nahe ist und die Amerikaner jede Stunde hier sein können, da -“
„Was“, fiel ihm die Hausmeisterin, die nun auch hinzugetreten war, erregt ins Wort, „Sie zweifeln an unserem Endsieg?“
„Wer so spricht, ist ein Verräter!“
Die Stimme des Studienrats klang so schneidend und verurteilend wie die eines Parteiredners.
Rehfisch zuckte zusammen. „Entschuldigen Sie bitte, so habe ich das nicht gemeint. Ich denke nur, die Tatsachen, die -“
„Ich habe Ihnen ausdrücklich verboten, den Luftschutzkeller zu betreten“, unterbrach ihn Schmeer schroff.
Die Hausmeisterin nutzte die Gelegenheit, sich aufzuspielen. Sie hatte diesen Leisetreter noch nie ausstehen können. Hass und dümmlicher Dünkel spiegelten sich in ihren Zügen, als sie Rehfisch zurechtstauchte:
„Juden sind hier unerwünscht!“
„Ich bin kein Jude.“
„Aber Ihre Frau.“
„Ich bin geschieden.“
„Ja“, fiel der Studienrat ein, „seit vier Monaten, als Sie es mit der Angst zu tun kriegten. Aber gesinnungsmäßig sind Sie immer noch ein Judenknecht, und die Hausgemeinschaft will nicht mit Ihnen in einem Raum zusammenleben.“
Niemandem schien aufzufallen, wie dumm und lächerlich das Wort vom „Judenknecht“ klang, jahrelange Propaganda und Verhetzung zeigten ihre Wirkung.
„Dass der überhaupt noch hier im Haus wohnen darf!“, ereiferte sich Hausmeisterin.
„Nicht mehr lange“, erklärte Schmeer, „dafür sorge ich schon.“
Dr. Schunck nickte entschlossen. „Meine volle Unterstützung haben Sie!“
„Ich habe Ihnen doch nichts getan, Herr Dr. Schunck, keinem Menschen etwas. Was wollen Sie eigentlich von mir?“
“Das fragen Sie noch?“, trumpfte der Luftschutzwart auf. „Allein schon vorhin Ihre Bemerkung über die Amerikaner – das ist Verrat.“
„Aber ich habe doch nur -“
„Wir alle stehen unseren Mann, wenn der Feind es wagen sollte, unsere Stadt anzugreifen.“
„Sehr richtig!“, pflichtete Dr. Schunck dem Luftschutzwart bei.
„Und da können wir Gesinnungslumpen wie Sie nicht brauchen, Herr Rehfisch.“
Seit langem schon war Rehfisch ein gebrochener Mann, immer in Angst, seine jüdische Frau zu verlieren, von der er sich so viele Jahre hindurch nicht getrennt hatte – trotz aller Schikane und Drohungen. Erst vor vier Monaten hatte sie ihn selbst dazu gedrängt, in die Scheidung einzuwilligen, um wenigstens sein Leben nicht zu gefährden. Denn mit dem Näherrücken der Front war die Gestapo dazu übergegangen, auch sogenannte Mischehen in die Konzentrationslager zu deportieren.
„Ich bin ja nur ein alter Mann“, sagte er leise, „und deshalb glauben Sie, mit mir alles machen zu können.“
„Verschwinden Sie endlich“, schnauzte Schmeer ihn an, „und nehmen Sie Ihr Gepäck mit!“
Mühsam und schleppend hatte sich Rehfisch erhoben. Er war es leid, noch länger zu kämpfen, die Kraft fehlte ihm und der Wille dazu. Mit zitternder Hand griff er nach dem Koffer, in dem er auch ein Kleid für seine Frau eingepackt hatte, obwohl sie nicht mehr bei ihm war, und ein Foto von ihr, damals auf der Hochzeitsreise.
Beklommen hatte Frau Pilgram die Erniedrigung des alten Mannes miterlebt.
„Nun sag du doch mal was, Franz“, flüsterte sie voll Mitgefühl ihrem Mann zu.
„Was soll ich denn dazu sagen?“
„Uns stört er doch nicht hier.“
Schweigend wich er dem auffordernden Blick seiner Frau aus, Unbehagen beschlich ihn. Gebot nicht die christliche Nächstenliebe, dem Mitmenschen zu helfen?
„Ich bin ein guter Katholik“, dachte er voll überzeugt, „der all seinen Pflichten peinlich nachkommt, wie die Kirche sie vorschreibt. Aber für einen Mann einstehen, der seine Frau verraten hat und davor unseren Herrgott, als er aus der Kirche ausgetreten war, nur um seinen Posten zu behalten – nein, das kann nie und nimmer meine Aufgabe sein. Gott wird wissen, was er tut… Und was ist schon dabei, wenn der Mann den Luftschutzkeller verlassen muss? Kann eine Bombe uns nicht auch hier unten töten, wenn Gott es so beschlossen hat…?“
Es war ja so bequem, alles auf den unergründlichen Ratschluss Gottes zu schieben, und Herr Pilgram, seit langem Rentner, war nicht mehr jung genug, den unbequemen Weg zu gehen. Erst als Rehfisch die Eisentür des Schutzraums hinter sich geschlossen hatte, wandte Pilgram den Blick wieder seiner Frau zu. Sie sprachen kein Wort mehr, die Sache hatte ihren Lauf genommen.
Oben in der Wohnung des jungen Kriegsversehrten Jansen war nichts von der Bedrückung zu spüren. Im Gegenteil, er hatte seinen Spaß mit Hanne, mit der er zu vergessen suchte, was war und ist – damals und jetzt.
„Na, Mädchen, ist doch besser im Bett als im Keller, wie?“
Sie kicherte und wand sich, als er ihr mit der Zunge die Brust liebkoste und mit der Hand zwischen die Beine griff.
„Komm, leg dich mal da rüber“, keuchte er.
Sie erstarrte und lauschte.
„Was hast du denn jetzt schon wieder?“
„Leiser! Da kommt jemand.“
Jetzt hörte auch er müde, schleppende Schritte die Treppe hinauf.
„Na wenn schon!“, brummte er und begann das Mädchen wieder zu streicheln.
Für wenige Augenblicke verstummten die Schritte, dann wurde eine Wohnungstür aufgeschlossen und zugezogen.
„Das war die Tür unter uns“, stellte Hanne fest.
„Ja, der alte Rehfisch.“
„Aber es ist doch noch immer Alarm.“
„Und so lange bleibst du auch noch im Bett.“
Er spreizte ihre Schenkel und drang in sie ein. Mit einem zufriedenen Seufzer umschlang sie ihn und zog ihn fest an sich. Nur das rhythmische Quietschen der Matratze war jetzt noch zu hören, dazu das Keuchen des Mannes und kurze, girrende Laute des Mädchens.
Plötzlich stemmte sie seine Hüften zurück und blickte ihn ängstlich an:
„Hör doch, Günther, Flugzeuge!“
Er hielt inne und lauschte. Das tiefe Brummen der Motoren kam aus großer Höhe. Es musste von einem ganzen Geschwader stammen, vielleicht sogar von mehreren: einem der gewohnten Bomberverbände, wie sie Nacht für Nacht von Westen einflogen.
„Na wenn schon“, sagte er, „die fliegen drüber weg.“
Er schnaubte verächtlich durch die Nase. „Na wenn schon – die fliegen drüber weg.“
„Und keine Flak!“, stellte das Mädchen enttäuscht fest, da kein Schuss fiel.
Er drückte ihren Mund mit seinen Lippen zu, und sie vergaß alles ringsum, als sie erneut seine Bewegungen in sich spürte.
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