Luftschutzwart Schmeer stürmte die Treppe hinauf, ihr entgegen, fast feldmarschmäßig ausgerüstet mit Stahlhelm, Drillichanzug und umgeschnalltem Koppel, an dem ein kurzer Spaten hing.
„Ach, da sind Sie ja!“, rief er ihr zu – und dann: „Kommen Sie, Frau Pilgram, ich helfe Ihnen runter.“
„Danke, Herr Schmeer. Die Treppen machen mir immer Schwierigkeiten.“
„Ich weiß. Nur vorsichtig – und stützen Sie sich auf mich.“
Als sie im Stockwerk darunter angelangt waren, wurde eine weitere Wohnungstür geöffnet. Ein Mann trat heraus, setzte zwei Koffer im Flur ab und zog hinter sich zu.
„Ah, ‚n Abend, Herr Dr. Schunck“, grüßte Herr Pilgram
Der andere hob den rechten Arm halb hoch. „Heil Hitler!“
Der Alte war leicht verwirrt. „Ah… ja….“, schnaufte er, „ja, natürlich.“
Dem Luftschutzwart fiel auf, dass der Lehrer allein aus der Wohnung kam.
„Wo ist denn Ihre Frau, Herr Studienrat?“, erkundigte er sich.
„Schon unten. Ich habe nur noch die beiden Koffer hier geholt.“
Er eilte den anderen voraus, die gehbehinderte Alte hätte ihn nur unnötig aufgehalten.
Endlich hatte auch Frau Pilgram die letzte Stufe geschafft. Sie waren unten im Keller angelangt, wo Schmeer die Eisentür zum Luftschutzkeller öffnete. Stimmengewirr schlug ihnen entgegen, die meisten Hausbewohner hatten sich schon dort eingefunden.
„Jetzt geht’s wieder allein, Herr Schmeer“, meinte Frau Pilgram. „Danke.“
„Setzen Sie sich da drüben in den Sessel.“ Sein Blick machte die Runde durch den Schutzraum. „Ich geh noch mal rauf, meine Tochter holen“, sagte er dann zu allen. „Die hat vielleicht gar nichts gehört in der Mansarde.“
„Herr Jansen ist auch noch nicht da mit seiner Bekannten“, rief ihm die Hausmeisterin zu.
„Ja gut, Frau Mertens, ich klopf mal bei denen an.“
Wieder stieg der Luftschutzwart die vielen Treppen hoch, wobei er zwei Stufen auf einmal nahm. Er hatte gerade die Hälfte hinter sich, als er seiner Tochter begegnete.
„Da bist du ja endlich, Gerda! Ich wollte dich gerade holen kommen.“
„Mich?“
„Ja, ich dachte, du hättest die Sirene nicht gehört.“
„Die hört doch jeder.“
„Warum kommst du denn erst jetzt runter?“
Gerda machte ein mürrisches Gesicht. „Erst wollte ich gar nicht aufstehn. Jede Nacht dasselbe.“
„Bei Fliegeralarm hast du den Luftschutzkeller aufzusuchen. Das ist Vorschrift. Und für dich als Tochter des Luftschutzwarts geilt das besonders.“
„Ist gut, Vater, ich geh ja schon runter.“
„Und beeil dich ein bisschen!“ Er sagte das, während er bereits wieder weiter nach oben hastete.
Verwundert blieb Gerda stehen und schaute ihm nach. „Wo gehst du denn noch hin?“
„Zu Jansen.“
„Den Weg kannst du dir sparen. Der kommt ja doch nicht, du kennst ihn doch.“
„Das wollen wir doch mal sehen!“
Er rang nach Atem, als er endlich oben vor der Wohnungstür stand und heftig mit der Faust dagegen pochte.
„Aufstehn, Herr Jansen“, rief er, „aufstehn, Fliegeralarm!“
„Das weiß ich doch“, schlug es ihm von drinnen barsch entgegen.
„In den Luftschutzkeller – aber rasch! Es sind starke Bomberverbände gemeldet.“
„Hauen Sie doch ab, Mann!“
Gereizt drehte sich Jansen auf die Seite und kehrte dem Luftschutzwart den Rücken zu, als stände der andere gleich neben dem Bett und nicht draußen vor der Tür.
„Da hörst du’s, Günther“, flüsterte seine Freundin Hanne ihm zu. „Ich geh runter.“
Er legte den einen Arm um sie. „Du bleibst hier im Bett!“
Schmeer hatte zwar das Getuschel gehört, aber kein Wort verstanden.
„Nehmen Sie wenigstens Rücksicht auf Ihre Bekannte!“, rief er ihm gereizt zu. „Es ist doch sicher wieder jemand bei Ihnen?“
„Das geht Sie ‘nen Dreck an!“
„So können Sie nicht mit mir reden – Sie nicht!“
„Ach, zum Teufel mit Ihnen, lassen Sie mich in Ruhe!“
„Und das mit dem Licht von vorhin, das wird noch ein Nachspiel haben, darauf können Sie sich verlassen. Sie haben uns damit alle in höchste Gefahr gebracht.“
Wut über seine Ohnmacht staute sich in Schmeer.
„Jedes Mal dasselbe Theater mit diesem Kerl“, dachte er, während er sich mit schweren Schritten zurückzog. „Seit dieser großkotzige Schnösel vor einigen Wochen ins Haus gezogen ist, habe ich nichts als Ärger mit ihm. Gut, er ist zwar ein Kriegsversehrter, aber denen begegnet man in diesen Tagen auf Schritt und Tritt. Das gibt ihm noch lange nicht das Recht, sich hier so aufzuspielen. An der Heimatfront, in diesem Haus, führe ich als Luftschutzwart das Kommando, und jeder hat sich meinem Befehl unterzuordnen. Ich trage hier die Verantwortung!“
Und das Leben, das dieser Jansen führte… diese Weiber! Jede Nacht was anderes im Bett, während die Landser an der Front in den Schützengräben lagen. Dass der sich nicht schämte… ein solches Lotterleben in einer so großen Zeit! Und das in einem anständigen Haus…
„Ich habe nie so schamlos rumgehurt wie der“, dachte der Luftschutzwart, und als ihm bewusst zu werden drohte, wie lange die Jahre schon zurücklagen, in denen er so alt gewesen war wie dieser Kriegskrüppel jetzt, unterdrückte er die aufkeimende Erinnerung verbittert.
Mechanisch öffnete er die Eisentür zum Luftschutzkeller und trat ein.
„Na, Herr Schmeer, kommen die beiden nun oder nicht?“, wollte die Hausmeisterin wissen.
„Ich lass mir das nicht mehr länger bieten.“
Seine Tochter zuckte die Schultern. „Ich hab’s dir doch gleich gesagt, Vater.“
„Das kommt die noch teuer zu stehn. ` Zum Teufel mit Ihnen!´ hat er geschrien, als ich an seine Tür geklopft habe.“
„Ach, Sie kennen doch diesen Rabauken“, versuchte Dr. Schunck ihn zu beruhigen. „Immer gleich das Maul aufreißen – und nichts dahinter.“
„Er hat immerhin zwei russische Panzer abgeschossen“, wandte seine Frau ein. „An einem Tag!“
„Bist du dabei gewesen?“
„Etwas wird schon dran sein, sonst hätte er nicht das Eiserne Kreuz bekommen, sogar erster Klasse.“
„Und schwer verwundet ist er auch“, unterstützte die Mutter mit dem Säugling die Frau des Studienrats. „Mein Schwager hat ebenfalls den linken Arm verloren. Deshalb kann er seinen Beruf nicht mehr ausüben. Genau wie Herr Jansen. Da ist es doch selbstverständlich, dass er leicht hochgeht, wenn man ihm irgendwie zu nahe kommt.“
Diese Parteinahme für den Kriegsversehrten ging dem Luftschutzwart wider den Strich.
„Alles in Ordnung hier?“, fiel er barsch ein. „Sandtüten, Wassereimer, Verbandszeug?“
Die Hausmeisterin nickte. „Ich hab schon nachgesehen.“
„Danke, Frau Mertens, auf Sie kann man sich immer verlassen.“
„Wir müssen eben alle zusammenhalten.“
„Sehr richtig!“, bekräftigte Dr. Schunck.
„Und der Notausstieg?“, fragte Schmeer die Hausmeisterin weiter. „Keine Kisten davor oder sonst was?“
„Daran hab ich noch nicht gedacht.“
„Das Wichtigste überhaupt!“
Der Luftschutzwart bog ein paar Schritte um die Ecke auf die Nische zu, von wo der Notausstieg ins Freie führte. Dieser Winkel wurde von der ohnehin schwachen Kellerlampe kaum beleuchtet, so dass er die gekrümmte Gestalt, die dort kauerte, erst bemerkte, als er dicht davorstand.
„Nanu, was tun Sie denn da?“, fuhr er den anderen an.
„Ich – ich habe mich hier auf die Kiste gesetzt.“
„Genau vor dem Notausstieg!“
„Ich dachte, ich würde hier am wenigsten jemanden stören“, versuchte sich der Ertappte zu entschuldigen.“
„Sie stören überall – und hier am meisten.“
Der andere, ein schwächlicher, älterer Mann, schwieg betreten wie jemand, der nirgendwo geduldet ist und immer unrecht hat.
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