Julian schritt hastig auf sie zu. Bewundernd sah er ihre schönen Arme, die durch den eilig übergeworfenen dünnen Schal schimmerten. Ihre Haut, nach der aufgeregten Nacht gegen Licht und Luft empfindlicher denn je, leuchtete im frischen Morgen. Die schlichte Schönheit, die so viel inneres Leben verriet, ergriff Julian. Solche Frauen gab es im unteren Volke nicht. Er fühlte, daß eine Saite in seinem Herzen vibrierte, an die bis dahin nie etwas gerührt hatte. Versunken in den Anblick der Reize, an denen sich seine Augen gierig weideten, dachte er gar nicht daran, daß er einen freundlichen Empfang erwartet hatte. Dann aber war er über die eisige Kälte, die ihm unverkennbar zuteil ward, um so mehr betroffen, witterte er doch dahinter die Absicht, ihn in sein Plebejertum zurückzudrängen.
Das Lächeln der Lust erstarb auf seinen Lippen. Er erinnerte sich des Ranges, den er in der menschlichen Gesellschaft einnahm, insbesondere in den Augen dieser vornehmen und reichen Dame. Im Moment lebte in seinen Mienen nichts mehr denn Hochmut und Groll gegen sich selbst. Er empfand heftigen Verdruß, daß er seinen Aufbruch um mehr als eine Stunde hinausgeschoben hatte, um dafür einen so demütigenden Empfang zu ernten.
„Nur ein Tor ärgert sich über die Welt!“ tröstete er sich. „Ein Stein fällt, dieweil er schwer ist! Soll ich ewig ein Kind bleiben? Wann werde ich endlich die treffliche Gewohnheit annehmen, diesen Leuten von meiner Seele nur gegen ihr Geld zu geben? Wenn ich will, daß sie – und damit auch ich – Respekt vor mir haben, dann muß ich ihnen begreiflich machen, daß ich armer Kerl zwar der Sklave ihres Mammons bin, daß ich mit meinem Herzen aber himmelhoch über ihrer frechen Selbstgefälligkeit throne, unsagbar erhaben über die armseligen Zeichen ihrer Gnade oder ihrer Geringschätzung.“
Während diese Gefühle in der Seele des jungen Lehrers wogten und wühlten, gewann sein zuckendes Gesicht die Mienen gekränkten Stolzes und wilder Empörung. Frau von Rênal erschrak zu Tode darüber. Die tugendhafte Kälte, die sie sich für die Wiederbegegnung vorgenommen hatte, wich dem Ausdruck der Teilnahme, eines Mitgefühls, das die Verwunderung über den sichtlichen Umschwung in Julian noch vertiefte. Die leeren Redensarten, die man sich am Morgen über das Befinden und das schöne Wetter zu sagen pflegt, kamen beiden nicht über die Lippen. Julian aber, dessen Hirn keineswegs durch Leidenschaft verwirrt war, fand sofort ein Mittel, Frau von Rênal zu zeigen, daß er an Freundschaft zwischen ihnen nicht recht glaube. Von der kleinen Reise, die er vorhatte, sagte er kein Wort. Er grüßte und ging.
Während sie ihm noch nachsah, niedergedrückt durch den düsteren Hochmut, der ihr aus seinem am Abend zuvor so liebenswerten Gesichte entgegengelodert war, kam ihr ältestes Söhnchen hinten aus dem Garten gelaufen, umschlang sie und berichtete ihr:
„Mutter, wir haben Ferien! Herr Julian verreist.“
Frau von Rênal stand das Herz still. Sie war tief unglücklich ob ihrer Tugendhaftigkeit und mehr noch ob ihrer Schwäche. Dies neue Ereignis nahm all ihr Denken in Beschlag. Die bedachtsamen Vorsätze, die sie in der vergangenen schrecklichen Nacht gefaßt, verflogen in alle vier Winde. Jetzt galt es nicht mehr, einem inniggeliebten Verliebten zu widerstehen. Sie sah sich in Gefahr, ihn auf ewig zu verlieren.
Sie mußte am Frühstück teilnehmen. Um ihr Herzeleid zu vollenden, redeten Herr von Rênal und Frau Derville fortgesetzt von Julians Abwesenheit. Er argwöhnte hinter der kategorischen Art, in der ihn Julian um Urlaub gebeten hatte, einen besonderen Anlaß:
„Ohne Zweifel hat dieser Bauernjunge das Angebot von irgend jemandem in der Tasche. Aber diesem Irgendjemand, und wäre es auch Valenod, wird wohl der Appetit vergehen, wenn er hört, daß er sich damit seine jährlichen Ausgaben um zweihundert Taler erhöht. Der Bursche wird sich gestern in Verrières eine Bedenkzeit von drei Tagen ausbedungen haben, und heute ist das Kerlchen in die Berge gelaufen, damit er mir nicht Rede und Antwort zu stehen braucht. Das ist auch ein Zeichen der Zeit, daß man sich die Unverschämtheiten eines ärmlichen Tagelöhners gefallen lassen muß!“
Frau von Rênal dachte bei sich: „Wenn schon mein Mann, der gar nicht weiß, wie tief er Julian verletzt hat, der Meinung ist, daß er uns verlassen wird: was soll ich dann erst glauben? Ach, es ist alles entschieden!“
Um wenigstens ungestört weinen zu können und Frau Dervilles Fragen zu entgehen, gab sie vor, heftige Kopfschmerzen zu haben, und legte sich zu Bett.
„So sind die Weiber!“ polterte Herr von Rênal gewohntermaßen. „Ewig ist an diesen komplizierten Maschinen etwas nicht im Schwunge.“ Spöttisch ging er von dannen.
Während Frau von Rênal alle Qualen der schrecklichen Leidenschaft erduldete, zu deren Opfer der Zufall sie gemacht hatte, wanderte Julian frohgemut durch die Schönheit der Gebirgslandschaft.
Der Weg führte quer über den langen Bergrücken im Norden von Vergy. Langsam ansteigend, kroch dieser Pfad durch den mächtigen Buchenwald in schier endlosen Zickzacks zum Kamm des Höhenzuges hinauf, der den nördlichen Hang des Doubstales bildet. Nach einigem Steigen blickte der Wanderer über die unbedeutenderen Erhebungen auf dem südlichen Flußufer hinweg bis weit hinein in die fruchtbaren Ebenen von Burgund und Beaujolais. Wenngleich das Gemüt des ehrgeizigen jungen Menschen für Naturschönheit wenig empfänglich war, so konnte er doch nicht umhin, von Zeit zu Zeit stehenzubleiben, um dem großartigen Fernblick Beachtung zu gönnen.
Endlich erreichte er den Gebirgskamm, den er auf einem Paß überschreiten mußte, um in das entlegene Tal zu kommen, in dem der Holzhändler Fouqué, sein Freund und Altersgenosse, wohnte. Julian beeilte sich durchaus nicht. Er spürte keine Sehnsucht, Menschen zu sehen. Auch den Freund nicht. Hockend wie ein Raubvogel zwischen den nackten Felsen, die den Gebirgszug langhin krönen, konnte er weithin jeden Menschen bemerken, der sich der Höhe genähert hätte. In der Mitte einer beinahe senkrecht emporragenden Felswand erspähte er eine kleine Höhle. Er kletterte hinauf.
„Hier können mir die Menschen nicht wehe tun!“ rief er aus, und seine Augen leuchteten.
Er kam auf den Einfall, sich die Freude zu machen, seine Gedanken niederzuschreiben. Das war ihm andernorts zu gefährlich. Ein viereckiger Felsblock diente ihm als Pult. Sein Bleistift flog über das Blatt. Was um ihn war, sah und hörte er nicht. Endlich bemerkte er, daß die Sonne hinter den fernen Bergen von Beaujolais zur Rüste ging. Da fragte er sich: „Warum sollte ich nicht hier übernachten? Brot habe ich bei mir. Ich bin frei!“
Beim Klange dieses großen Wortes jubelte seine Seele. In seinem Heuchlertum hätte er sich selbst bei seinem Freunde Fouqué nicht frei gefühlt. Den Kopf auf beide Hände gestützt, lag er in seiner Höhle. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so glücklich gefühlt. Von Träumereien bewegt, schwelgte er selig in seiner Freiheit. Ohne daß er darauf achtete, erstarben allmählich die letzten Schimmer der Dämmerung. Im Schöße der ungeheuren Finsternis dichtete seine Phantasie an den Dingen, die er dermaleinst in Paris zu erleben sich ersehnte. Vor allem erstand in seiner Seele die Gestalt einer Frau, die viel schöner war und viel geistvoller als alle die Frauen, die er bisher zu sehen bekommen hatte. Er würde sie leidenschaftlich lieben und von ihr wieder geliebt werden. Er würde sich nur auf kurze Zeiten von ihr trennen und nur um Ruhm zu erringen und immer liebenswerter zu werden.
Ein junger Mann, mitten im grauen Alltag des Lebens und Treibens einer Großstadt aufgewachsen, wäre an dieser Stelle seines Traumdaseins, selbst wenn er Julians Einbildungskraft gehabt hätte, von Ironie ergriffen und ernüchtert worden. Der Drang nach großen Taten wäre zu nichts zerronnen vor der banalen Weisheit: „Lässest du deine Geliebte allein, beim Teufel, so riskierst du, daß sie dich zwei- bis dreimal täglich betrügt!“ Der Bauernsohn Julian hingegen wähnte, ihm fehle zu Heldentaten nur die gute Gelegenheit.
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