Inzwischen war es stockfinstere Nacht geworden. Bis zu dem kleinen Dorf, in dem Fouqué hauste, hatte er noch zwei Stunden zu laufen. Ehe er die kleine Höhle verließ, machte er ein Feuer an und verbrannte sorgfältig alle seine Kritzeleien.
Sein Freund war höchst erstaunt, als Julian nachts ein Uhr an seine Tür klopfte. Fouqué war dabei, seine Geschäftsbücher nachzutragen. Er war überlang, nicht besonders wohlgestaltet, und hatte grobe, harte Züge, dazu eine Riesennase; aber in dieser abstoßenden Hülle barg sich viel Güte.
„Du hast dich wohl mit dem Bürgermeister überworfen, daß du hier so plötzlich hereinschneist?“ fragte er.
Nicht ohne Vorbehalt erzählte Julian, was sich am Tage vorher zugetragen hatte.
„Bleibe bei mir!“ schlug ihm Fouqué vor. „Du kennst Herrn von Rênal, Herrn Valenod, den Landrat Maugiron, den Pfarrer Chélan. Du kennst also die Eigenart der Leute unsrer Gegend und kannst mich bei den Versteigerungen vertreten. Das Rechnen verstehst du besser als ich. Du könntest mir die Bücher führen. Mein Handel geht vorzüglich. Ich werde allein nicht mehr fertig, aber ich habe Angst, einen Gauner zum Teilhaber zu bekommen. Deshalb muß ich manches schöne Geschäft schwimmen lassen. Vor vier Wochen habe ich dem Michaud aus Saint-Amand zweitausend Taler zu verdienen gegeben. Ich hatte ihn sechs Jahre nicht gesehen und traf ihn zufällig auf der Holzauktion in Pontarlier. Diese zweitausend Taler hättest du ebensogut einstecken können, oder wenigstens tausend. Wenn ich dich nämlich an jenem Tage bei mir gehabt, so hätte ich auf den ganzen Holzschlag feste geboten, und die andern hätten ihn mir bald gelassen. Werde mein Kompagnon!“
Dies Angebot verstimmte Julian und dämpfte seine tollen Ideen. Während des Nachtmahls, das sich die beiden Freunde gleich Helden Homers selbst bereiteten, weil Fouqué einsam lebte, bewies er Julian an der Hand seiner Geschäftsbücher, wie ertragreich sein Holzhandel war. Fouqué hielt ungemein viel von der Klugheit und Gewissenhaftigkeit seines Freundes.
Als Julian endlich allein in seiner bretterwandigen Dachkammer war, sagte er sich: „Wahrlich, hier könnte ich mir ein paar tausend Taler verdienen und später mit ihrer Hilfe den Beruf des Priesters oder den des Soldaten ergreifen, je nachdem, was dann in Frankreich gerade Mode ist. Das kleine Vermögen, das ich mir hier zusammenscharrte, würde mir dereinst manches kleine Hindernis aus dem Wege räumen. Auch hätte ich hier in den Bergen Muße genug, meiner grauenhaften Ignoranz in den Dingen, die die höhere Gesellschaft beschäftigen, ein wenig abzuhelfen. Fouqué will nicht heiraten, aber er klagt, daß ihn das Alleinsein unglücklich mache. Es ist also klar: wenn er sich einen Teilhaber nimmt, der ihm kein Kapital ins Geschäft bringt, so tut er dies in der Erwartung, daß ihn selbiger nie wieder verläßt...“
Mißmutig rief Julian aus: „Soll ich meinem Freund etwas vormachen?“
Und er, dem Heuchelei und purer Egoismus die Scheidemünzen waren, mit denen er jeden Schritt vorwärts bezahlte, fand seltsamerweise den Gedanken unerträglich, einen lieben Menschen auch nur im geringsten zu kränken. Mit einemmal erhellte sich sein Gemüt. Es fiel ihm ein Grund ein, das Angebot ausschlagen zu können. „Aber natürlich!“ sagte er sich. „Es wäre Schlappheit von mir, sieben oder acht Jahre zu vertrödeln. Dann wäre ich achtundzwanzig. In diesem Alter hatte Napoleon bereits das Größte vollbracht! Wenn ich mir auf obskure Weise ein bißchen Geld zusammengeschachert habe, indem ich auf die Holzversteigerungen renne und ein paar subalternen Halunken um den Bart gehe, wer weiß, ob ich dann noch das heilige Feuer in mir habe, ohne das keiner berühmt wird.“
Am Morgen erklärte er dem braven Fouqué, der den Eintritt seines Freundes in das Geschäft bereits für eine abgemachte Sache hielt, kaltblütig: er fühle sich so stark zum heiligen Stand berufen, daß erden Vorschlag ablehnen müsse.
Fouqué war starr. „Aber bedenke doch“, wandte er ein, „ich will dich als Teilhaber aufnehmen, oder wenn dir dies lieber ist, gebe ich dir ein festes Gehalt von viertausend Franken im Jahre. Willst du wirklich zu deinem Bürgermeister zurück, dem du nicht mehr wert bist als der Dreck an seinen Stiefeln? Wenn du dir ein paar tausend Taler erübrigt hast, wird dich niemand hindern, in das Priesterseminar einzutreten. Mehr noch: ich verpflichte mich, dir die beste Pfarre im ganzen Lande zu verschaffen ...“ Fouqué begann leise zu reden. „Ich liefere nämlich das Brennholz an Herrn***, Herrn***, Herrn***. Ich liefere ihnen die allerbeste Ware, berechne ihnen aber nur den Preis der geringsten Qualität.“
Julian ließ sich durch nichts umstimmen, so daß ihn der Freund schließlich für etwas verrückt hielt.
Im Morgengrau des dritten Tages nahm er Abschied von Fouqué und verbrachte den ganzen Tag in den Felsenklüften oben im Gebirge. Er fand seine kleine Höhle wieder, aber nicht seinen Seelenfrieden. Den hatte ihm Fouqués Angebot geraubt. Wie Herkules stand er am Scheidewege – nicht zwischen Laster und Tugend, sondern zwischen einem wohlgesicherten Durchschnittsdasein und dem Heldentum seiner Jugendträume.
„Wirkliche Festigkeit fehlt mir“, gestand er sich in tiefstem Weh über den Zweifel an sich selbst. „Ich bin nicht aus dem harten Holze der großen Männer geschnitzt, wenn ich fürchte, daß mich ein halbes Dutzend Jahre Broterwerb um die göttliche Energie bringt, durch die der Mensch das Außergewöhnliche schafft.“
Als Julian das verfallene Gemäuer der alten Kirche von Vergy wieder vor sich sah, fiel ihm ein, daß er seit vorgestern kein einziges Mal an Frau von Rênal gedacht hatte. „Am Tage, da ich fortging“, sagte er sich, „hat mich diese Frau den ungeheuren Abstand fühlen lassen, der uns trennt. Sie hat mich als den Arbeitersohn behandelt. Ohne Zweifel hat sie mir zeigen wollen, daß es sie gereut, mir an jenem Abend ihre Hand überlassen zu haben ... Sie ist so schön, diese Hand! Und der Blick dieser Frau: welcher Zauber, welche Vornehmheit lebt darin!“
Die Möglichkeit, durch Fouqué zu Vermögen zu kommen, verlieh Julian eine gewisse Unbefangenheit in seinen Grübeleien. Sie waren nicht mehr so häufig verbittert und bedrückt, weil er arm und von niedrer Herkunft war. Er beurteilte alles von einer höheren Warte aus und sah gleichsam über die Schranke zwischen Armut und Reichtum hinweg. Wenngleich bei weitem nicht imstande, seine Stellung zur Welt philosophisch zu beurteilen, war er doch hellsichtig genug, um zu erkennen, daß ihn sein Ausflug ins Gebirge gewandelt hatte.
Unverständlich war ihm Frau von Rênals starke Unruhe, als er auf ihren Wunsch von seiner kleinen Reise berichtete.
Fouqué hatte Heiratsabsichten und eine unglückliche Liebschaft gehabt. Seine Herzensergießungen über Liebe und Ehe waren der Angelpunkt in den Gesprächen der beiden Freunde. Allzu rasch glücklich, hatte Fouqué bald erfahren, daß er nicht allein geliebt ward. Diese Erlebnisse hatten Julian verwundert. Er lernte manch Neues daraus. In sein eigenes einsames Leben voll Träumerei und Mißtrauen war noch keinerlei Aufklärung gedrungen.
Während seiner Abwesenheit hatte Frau von Rênal nichts als Qualen durchgemacht, die untereinander verschieden waren, aber eine immer unerträglicher als die andre. Sie war richtig krank. Als Frau Derville Julian ankommen sah, warnte sie die Freundin: „Auf keinen Fall darfst du dich heute abend in den Garten setzen. Dir ist nicht wohl, und die feuchte Luft wäre deinem Zustand geradezu schädlich!“
Zu ihrem Erstaunen bemerkte Frau Derville, daß ihre Freundin, die sich sonst immerfort von ihrem Manne wegen ihrer übereinfachen Kleidung tadeln ließ, durchbrochene Strümpfe und allerliebste aus Paris bezogene Halbschuhe anzog. In den letzten drei Tagen war es Frau von Rênals einzige Zerstreuung gewesen, ein Sommerkleid aus hübschem, neumodischem Stoff zuzuschneiden und in aller Eile von Elise nähen zu lassen. Dieses Kleid war gerade fertig geworden. Ein paar Augenblicke nach Julians Rückkehr zog Frau von Rênal es auch schon an. Nun zweifelte die Freundin nicht mehr. „Sie ist verliebt, die Unglückselige!“ sagte sie sich. Und mit einemmal wurden ihr alle die sonderbaren Merkmale ihrer Krankheit klar.
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