»Sieht aus, als wärst du anderer Meinung?«, begann ich ihm zugewandt.
»Ja. Sie hat echt einen guten Job gemacht, aber ich konnte mich nicht einfach so zurücklehnen und es genießen. Ich hatte immer den Eindruck, als wären die nicht ganz freiwillig hier. Alleine der leere, ausdruckslose Blick, den sie haben. Und wenn du dich ein bisschen mit ihnen unterhältst und sie etwas Persönliches fragst, wechseln sie sofort das Thema. Man kann spüren, dass sie alle eine Art Barriere um sich herum aufbauen.« Die ganze Zeit, während er sprach, nickte ich nur zustimmend. Es war genau das, was mich nach dem Tanz mit Daniela zurück auf den Boden der Tatsachen holte.
Wir alle wussten ganz genau, was er sagen wollte und wir verstanden es. Uns war es ähnlich ergangen, nur mit dem Unterschied, dass ich persönlich entspannen konnte – zumindest beim zweiten Mal.
Da saßen wir also, jeder mit seinen persönlichen Eindrücken. Es kamen noch immer Mädchen zu uns auf die Couch, aber wir lehnten ab, sodass auch die Nachfragen mit der Zeit abnahmen. Auch Daniela kam noch einmal, setzte sich neben mich und fragte, ob ich noch einen Tanz wolle. Ihr Parfum und ihr Blick machten es mir wirklich schwer abzulehnen, doch irgendwie gelang es mir – vielleicht half mir ja der Geiz. So ging sie wieder, allerdings muss man mir angesehen haben, dass ich damit nicht richtig zufrieden war, denn Thomas fragte nach einiger Zeit:
»So, sollen wir aufbrechen, oder will noch jemand einen Tanz?« Diese Frage schien vor allem an Lars und mich gerichtet und nach einigem Zögern sagte ich:
»Wenn Lars mir einen seiner Chips gibt, würde ich einen letzten Tanz wollen.« Es gab die Möglichkeit, den Betrag von zwanzig Pfund an der Bar mit einer IC-Karte zu bezahlen, man bekam dann einen Chip, den man einfach den Mädchen gab. Da ich keine zehn Pfund Abhebegebühr am Automaten entrichten wollte, mein Portemonnaie aber leer war, war dies die einzige verbleibende Möglichkeit. Also ging Lars kurzerhand an die Bar und brachte für mich und für sich je einen Chip mit.
Es dauerte eine Weile, bis ich Daniela sah. Zunächst überlegte ich, ob ich von jemand anderem einen Tanz wolle, entschied mich aber letztlich dagegen. Ich suchte nicht das Risiko , sondern einen Abschluss für den Abend, den ich nicht so schnell vergessen würde. Ich wollte mich noch einmal entführen lassen, noch einmal alle Gedanken und Sorgen vergessen und nur in ihrer Welt leben. Das dachte ich, als ich sie jetzt in der Lounge sah.
»Ich bin gleich zurück!«, sagte ich lachend, stand auf und ging in Richtung Bar. Auch unmittelbar vor meinem dritten Tanz war ich nicht gänzlich frei von Nervosität. Sie kam gerade von der Bar und ich sprach sie an.
»I think I’ve changed my mind.«
»About what?«, fragte sie und schien in diesem Moment etwas verwirrt.
»I’d like to have another dance«, erwiderte ich.
»Oh.« Ein Lächeln trat auf ihr Gesicht, das mir sicher in Erinnerung bleiben wird.
»Sure. We go upstairs again«, sagte sie, nachdem sie den Chip in ihrer Tasche verstaute.
Zwei Minuten später saß ich wieder wie berauscht auf der ledernen Couch und betrachtete sie, wie sie ihren Körper bewegte, näher und näher kam, sich schließlich an mich schmiegte und mich mit ihren Augen ansah, während ihr die Strähnen ins Gesicht fielen. Ich war wie beim ersten Mal gebannt, aber ich bin mir sicher, dass ich ein breiteres Grinsen auf dem Gesicht hatte. Kein Wunder, denn ich glaube nicht, dass ich jemals so sorgenfrei war, wie in den Momenten mit Daniela. Wieder konnte ich in den wenigen Augenblicken Abstand von allem nehmen, alles vergessen und so war es wieder wie beim ersten Mal. Ein flüchtiger Kuss, ein leises »Thank you.« und es war vorbei. Wieder hinterließ es eine plötzliche Lücke, die unbedingt mit einem weiteren Tanz gefüllt werden wollte. Das Gefühl schwand nach einer Weile, auch wenn es länger anhielt als noch beim ersten Mal.
Ich ging zurück zu den Anderen und konnte auch diesen Tanz nur mit den Worten aufregend und außergewöhnlich beschreiben. Es würde noch dauern, bis ich eine treffendere Beschreibung für dieses Geschehen finden würde, denn dafür müsste ich die letzten Minuten erst gänzlich realisieren und verarbeiten. Ich sah mich in dem Raum um und kam wieder nicht umhin festzustellen, dass er jetzt fast schon normal wirkte, gar nicht so übernatürlich, wie noch beim Eintritt.
Wir saßen noch eine ganze Weile so dort und warteten auf Lars, der mit einer spanischen Tänzerin verschwunden war. Es kamen noch ein oder zwei Mädchen zu uns, doch wir lehnten dankend ab. Zumal ich persönlich sowieso keinen weiteren Tanz wollte, in der Befürchtung, die Erlebnisse der letzten beiden irgendwie verblassen zu lassen. Danach wurden wir nicht mehr umworben. Es hatte sich wohl herumgesprochen, dass an uns kein Geld mehr zu verdienen sei. Wir unterhielten uns noch weiter darüber, wie surreal der Eindruck eigentlich war, den wir hier bekamen. Zum einen waren da die schönen Mädchen, die einem wirklich den Atem rauben konnten und zum anderen war da die harte Realität hinter ihrer steinernen Fassade: Die Vergangenheit, die sie hierher brachte und nun noch immer unbarmherzig in ihrem Griff festhielt. Dieser Kontrast aus Schwarz und Weiß hinterließ einen bitteren Beigeschmack bei uns allen. Irgendwie hatte jeder das Gefühl, dass man die Mädchen irgendwie retten müsse, sie einfach mitnehmen und ihnen ein besseres Leben schenken. Doch wie unsinnig waren diese Gedanken. Wir konnten eben nichts unternehmen, also saßen wir auf dem ledernen Sofa und philosophierten mit traurigen Gedanken über etwas, dass sich nicht ändern ließ. Glücklicherweise konnte niemand unsere Unterhaltungen verstehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Lars wieder – mit einem Grinsen auf dem Gesicht, das jedoch noch mit etwas anderem verbunden war. Er erzählte uns, dass ihm die Tänzerin noch das Angebot machte, mit ihm in ein privates Zimmer zu gehen. Er schlug jedoch aus. Jetzt bekam der Beiname »Gentlemans Club« erst seine wirkliche Bedeutung. Wenn den Mädchen ein Mann gefiel, der hier saß, dann hatten sie die freie Wahl, ihm noch weitere Dienste anzubieten. Das zumindest vermuteten wir. Natürlich hatten wir darüber keine Gewissheit, aber dieser Schluss lag nahe. Schließlich standen wir alle auf und machten uns daran, das Etablissement zu verlassen.
Ich sah mich nach Daniela um, um sie wenigstens noch einmal zu sehen, bevor ich den Club verließ. Ich war mir sicher, dass wir beide uns nie wiedersehen würden. Auch war ich mir sicher, dass diese Tatsache nur für einen von uns von Bedeutung war, aber das störte mich an diesem Abend nicht. Ich konnte sie nirgends entdecken. Die Mädchen verabschiedeten sich nett von uns und wir gingen wieder durch die Doppeltüren, die uns vor wenigen Stunden als Eingang in diese andere Welt dienten.
Die Nachtluft von Birmingham war kalt. Ein kräftiger Wind peitschte uns ins Gesicht.
Bereits als wir mit dem Taxi den Rückweg antraten, schien die Normalität die Ereignisse der Nacht allmählich wieder zu verdrängen. Die anderen verloren kein Wort mehr über das Aphrodite oder die Tänzerinnen.Carsten schlief, während der Rest seine Scherze auf Kosten der Menschen machte, an denen wir vorbeifuhren.
Ich aber saß nur schweigend daneben. Noch immer dachte ich an Daniela, an ihr Parfum, den leichten Schweiß auf ihren Brüsten, daran, wie sinnlich sie war und wie ich die Zeit vergaß, während sie mich mit sich nahm, in eine Welt, die ich zuvor nicht kannte.
Der Tag in London war für mich nichts im Vergleich zu der vergangenen Nacht. Viel zu früh waren wir aufgestanden, um uns an einem einzigen Tag viel zu viel anzusehen. Sicher waren Madame Tussauds, das London Eye, der Big Ben mit den Houses of Parliament und der Tower of London Dinge, die man einmal im Leben gesehen haben sollte. Aber für mich waren die Gedanken an die jüngsten Ereignisse immer noch zu frisch. Mein Körper war zwar bei jedem dieser bemerkenswerten Plätze, mein Verstand jedoch, war in Birmingham geblieben.
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