Wie sich nach zahlreichen ergebnislosen Untersuchungen herausstellte, waren diese Schmerzen psychosomatischer Natur. Eineinhalb Jahre und die Hilfe einer Fachärztin waren nötig, damit ich heute hier sitzen konnte – beschwerdefrei. Sie gab mir einen Rat, den ich von jetzt an als so etwas wie meine Philosophie ansehen wollte. Diese Philosophie deckte sich mit den Erkenntnissen der Frau, die noch vor wenigen Minuten zu mir und einigen anderen sprach. Wann immer es mir in der Zukunft an etwas fehlen sollte, würde ich mich an die Vergangenheit zurückerinnern. Dann würde ich feststellen, dass es Zeiten in meinem Leben gab, die übler waren als das, was vor mir läge. Vermutlich würde auch ich mir dann sagen: »Es hätte schlimmer sein können.«
Ich saß noch immer in der Aula und spielte mit dem Gedanken, in den Unterricht zurückzukehren. Dabei war die zweite Unterrichtseinheit, für die man mich freistellte, noch nicht vorüber. Zum Glück bin ich sitzengeblieben. Denn hätte ich das nicht getan, wäre mir entgangen, mit wem die junge Referentin jetzt den Platz am Rednerpult tauschte. Eine schlanke Frau mit kurzem schwarzem Haar löste sie unter dem Applaus der noch verbliebenden Zuhörer ab. Als sie sich den Menschen im Saal zuwandte, blickte ich in ein vertrautes Gesicht. Sie war diejenige, der ich so viel zu verdanken hatte, die mir eineinhalb Jahre mit Rat und Tat zur Seite stand – die Fachärztin für Psychologie, Dr. Isabel Hofmann.
Damals, bei den Besuchen bei Dr. Ulbrich, hatte ich noch keine Ahnung, dass die vermeintliche Erkältung mein Leben einmal völlig aus der Bahn werfen würde. Ich könnte die Frage, was ich in der Zeit zuvor gemacht habe, im Grunde mit drei Worten beantworten: Ich habe gelebt. Ich habe das gemacht, was alle tun. Ich bin meiner Ausbildung nachgegangen, hatte manchmal nach Feierabend ein paar Bier und freute mich auf die Wochenenden. Wenn mich jemand nach meinem befinden fragte, dann beteuerte ich, wie gut es mir ging und ich tat dies mit reinem Gewissen. In zwei Jahren hätte ich meine Lehrzeit absolviert. Direkt im Anschluss würde vermutlich als Facharbeiter in meinem Betrieb anfangen. Dann kämen die ersten guten Gehälter und ich könnte mich wohnlich verbessern – mindestens sechzig Quadratmeter für mich alleine, achtzig, wenn ich sie bis dahin zu teilen gedenke. Ich fing wieder an, Pläne zu machen. Ich hatte das, was alle tun, endlich auch für mich entdeckt und wollte nicht, dass sich daran etwas änderte.
Streng genommen macht es wenig Sinn, wenn ich an dieser Stelle ewig über meinen Alltag schwadroniere, wie er war oder wie er hätte sein können. Obwohl ich weiß, dass die folgende Episode die eigentliche Geschichte nicht voran treibt, komme ich nicht umhin, trotzdem von ihr zu erzählen – denn sie handelt von meinem früheren Leben. Neben all der Normalität, setzte ich mir das Ziel, hin und wieder auch mal aus dem Trott des Alltäglichen auszutreten. Ich glaubte in der Vergangenheit eine Menge versäumt zu haben und wollte dieses Loch mit einer Reihe von Erfahrungen stopfen, die dann hoffentlich unvergessen blieben, auf angenehme Art und Weise. Im folgenden Kapitel dreht es sich um eine Reise, von der ich mir solche Eindrücke erhoffte. Ich bestritt sie jedoch nicht allein, denn an meiner Seite befanden sich meine vier besten Freude: Andreas, Lars, Thomas und Carsten. Vier Menschen, von denen ich in jener Zeit noch glaubte, ich würde alles mit ihnen teilen und nie Geheimnisse vor ihnen haben wollen.
Ich zog den Ärmel meiner Jacke hoch und sah auf mein rechtes Handgelenk. 23:27 Uhr. So früh noch? , dachte ich und vergrub meine Hände wieder tief in den Taschen meiner Jeans. Es dauerte einen kurzen Augenblick, bis mir aufging, dass ich die Stunde Zeitverschiebung zwischen England und Deutschland vergessen hatte. Dort war es bereits kurz vor halb eins.
Wir hatten den Club vor etwa zwanzig Minuten verlassen und erreichten nun das eigentliche Ziel des Abends. In der Zwischenzeit weite Lars Andreas in sein Vorhaben ein, während Thomas und Carsten bis dato noch immer im Dunkeln tappten. Erst als sich der Höhepunkt mehr und mehr vor uns offenbarte, wussten auch sie, was auf sie zukam.
»Da wollt ihr rein gehen?«, fragte Thomas ein wenig zögerlich. Lars nickte und sprach:
»Ich habe es mit den Leuten, mit denen ich hier war, versäumt, so etwas zu unternehmen. Und wer wäre dafür besser geeignet als meine besten Freunde?«, er lächelte. Noch. Lars war im Grunde derjenige, dem ich all das hier zu verdanken hatte. Im letzten Jahr absolvierte er ein Auslandssemester in England. Seitdem sprach er oft davon, irgendwann einmal auch mit uns hierher zu kommen. Sein Wunsch sollte schneller in Erfüllung gehen, als wir es ahnten. Vor wenigen Tagen gewann er eine Stange Geld bei einem Preisausschreiben im Radio. Es ging darum, einen Song zu erraten, der nur für den Bruchteil einer Sekunde eingespielt wurde. Er war sich von Beginn an sicher, den Titel zu kennen. Der Gewinn verdreifachte, vervierfachte, verfünffachte sich. Am Ende schlug Lars zu – und wir profitierten davon. Er nahm uns mit auf diese Reise und gab sich die ganze Zeit überaus spendabel. Jetzt waren wir inmitten der alten Industriestadt Birmingham, mit ihren Fabrikgebäuden, Leuchtreklamen und roten Backsteinziegeln. Schon morgen würde es nach London gehen.
Das Haus, vor dem wir standen, war wohl ein ehemaliges Bürogebäude. Es wirkte mit seinen vielen Fenstern relativ unscheinbar. Einzig die verschlungenen Buchstaben, die an der Fassade angebracht und gut von der anderen Straßenseite zu lesen waren, verrieten, womit es der Besucher zu tun hatte. Aphrodite – Gentlemans Club, leuchtete es einem schon aus großer Entfernung und in markanten Neonfarben entgegen.
Kurzerhand überquerten wir die Hauptstraße und standen wenige Sekunden später in gebührendem Abstand zum Eingang vor dem Gebäude. Eine breite Treppe führte mit wenigen Stufen zum Eingangsbereich hinauf, von wo uns zwei Männer von kräftiger Statur bestens im Blick hatten. Ein starkes Gefühl von Nervosität bahnte sich seinen Weg durch jede Faser meines Körpers, mit jedem Schritt wurden meine Beine schwerer und schwerer. Das schien nicht nur mir so zu gehen. Schließlich blieben wir stehen und sahen einander an. Offenbar wollte das hier keiner mehr so wirklich. Von Lars' anfänglichem Mut zur Sache war nicht mehr sonderlich viel übrig, wie mir ein Blick in seine Augen verriet. Ich fröstelte in der kalten Nachtluft und wünschte mir, ich hätte vorhin in der Bar das ein oder andere Bier mehr getrunken – nicht nur um der inneren Wärme Willen, versteht sich. Allmählich befasste ich mich auch mit dem Gedanken, dass ich noch eine Weile hier stehen würde. Die Gruppe führen wollte keiner so recht. Auch ich war nicht unbedingt gewillt, dass Zepter in die Hand zu nehmen. Vermutlich wären wir, wenn es nach mir gegangen wäre, schnellstmöglich wieder umgedreht.
»Los jetzt. Sonst stehen wir ja morgen früh noch hier«, dieser Spruch konnte nur von Andreas stammen. Er trug eine dunkelblaue Marken-Jeans und dazu ein passendes weißes Shirt, das ebenfalls das Logo eines bekannten Modelabels zierte. Sein braunes Haar war in Stufen geschnitten und meistens, wie auch an diesem Abend, formte er es mit Wachs zu einer Windstoßfrisur. Seine Haut war hell und sein Gesicht mit einigen Sommersprossen bedeckt, die ihm nicht allzu schlecht standen. Es beschlich mich aber schon so manches Mal das Gefühl, dass ihm sein etwas hellerer Teint nicht sonderlich gefiel. Immer, wenn die Sommerzeit anbrach, versuchte er so viel und so schnell wie möglich Sonne zu tanken, damit sich seine Haut möglichst bald in ein gesundes Braun färbte. Meistens war das Ergebnis allerdings eher ein Sonnenbrand, der sich in Form einer roten Nase äußerte. Auf einigen Fotos, die sich im Laufe der Jahre bei diversen Partys oder ähnlichen Anlässen ansammelten, konnte man noch diese rote Sonnenbrandnase bestaunen. Ich musste jedes Mal schmunzeln, wenn ich sie sah.
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