Melissa antwortete: „Oma, bitte schicke mich nicht mehr dahin zurück, ich habe Angst, ich will bei dir bleiben.“
Ihr Großvater sagte kein Wort, stand auf und verließ den Raum. Er hielt immer zu seiner Tochter Anna und hieß es nicht gut, wenn Melissa nun bei ihnen blieb. „Ein Kind gehört zu seinen Eltern“, das war sein ganzer Kommentar dazu.
Melissa blieb alleine mit ihrer Großmutter in der Küche zurück und hoffte nun von ganzem Herzen, dass ihre Großmutter ihr sagte, dass sie bei ihr bleiben konnte. Sie wollte nicht mehr nach Hause zurück, wo sie nicht geliebt und behandelt wurde wie eine Aussätzige.
Noch am selben Abend griff ihre Großmutter schweren Herzens zum Telefon und rief ihre Tochter Anna an, um ihr mitzuteilen, wo ihre Tochter sich aufhält. Diese rastete völlig aus vor Wut wie erwartet und Melissa war froh, ihr in diesem Moment nicht gegenüberstehen zu müssen. Sie mochte erst gar nicht daran denken, wie ihr Vater darauf reagierte. Würde sie in dem Moment neben ihm stehen, würde es mit Sicherheit mit sehr vielen Schlägen für sie enden.
Sie verweigerte mit ihrer Mutter am Telefon zu sprechen, sie hatte Angst. Große Angst. Davor das sie ihre Großmutter wieder nach Hause schicken würde.
Ihre Großmutter versuchte, beruhigend auf ihre Tochter einzuwirken, jedoch ohne Erfolg. Sie verlangte, dass man ihre Tochter umgehend wieder in den nächsten Zug nach Hause setzte. Melissas Großmutter sagte jedoch, sie werde sich das Ganze erst mal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen und legte den Hörer auf.
In Melissa, die angespannt zugehört hatte, keimte die Hoffnung, dass sie bleiben konnte.
Die nächsten zwei Tage hörte sie durch die Türe immer wieder Gespräche ihrer Großeltern mit an, die zu großen Auseinandersetzungen führten zwischen den beiden.
Melissa fühlte sich schuldig, dass sie nun der Grund war, der ihrer Oma so viel Kummer bereitete. Sie lief dann immer in den Garten hinaus, um zu spielen, weil sie das alles nicht hören wollte. Sie hoffte so sehr, dass sich ihr Opa erbarmen ließ.
Am dritten Tag klingelte das Telefon und sie hörte ihre Großmutter sagen: „Ja, in Gottes Namen, ich setze sie heute Nachmittag in den Zug und du holst sie dann dort am Bahnhof ab. Aber pass in Zukunft mehr auf sie auf! Das kann doch nicht so weitergehen, dass sie vor euch davonläuft!“
Als sie diese Worte vernahm, zerbrach in Melissa alle Hoffnung. Ihr war klar, dass es keinen Ausweg mehr gab, sie würde wieder zurück in ihre tägliche Hölle müssen.
Sie ging in ihr Zimmer und packte ihre Sachen zusammen. Sie fühlte sich von ihren Großeltern verraten. Nun war sie ganz allein. Keiner wollte ihr helfen.
Ihre Großmutter versuchte, sie damit zu trösten, dass sie ja in den Sommerferien wiederkommen könne. Nur dass der Großvater es nicht erlaubt, dass sie bleibt und sie wieder heimmüsse, deshalb. Sie versuchte verzweifelt, ihre Tränen zu unterdrücken, aber man konnte sehen, dass sie wohl erahnte, was Melissa zu Hause zu erleiden hatte. Sie packte Melissa noch ein paar Kuchenstücke ein und verabschiedete sich weinend von ihr. Der Großvater fuhr Melissa zum Bahnhof, schärfte ihr noch einmal eingehend ein, dass ein Kind seinen Eltern zu gehorchen hatte, und setzte sie dann in den Zug und fuhr nach Hause.
Melissa hatte Angst. Sie sah dauernd auf die Uhr, und hoffte inständig, dass der Zug niemals ankam.
Am Bahnhof angekommen, sah sie schon ihre Mutter, die auf sie wartete. Ihr Blick sprach Bände und man sah, dass sie sehr verärgert war.
Sie riss ihr förmlich den Koffer aus der Hand und hieß sie, ins Auto einzusteigen. „Ich rate dir, so was nie wieder zu tun!“, schrie sie Melissa an.
Dann fuhren sie nach Hause, wo ihr Vater sie schon erwartete.
Es kam, wie es kommen musste, und Melissa bekam an diesem Abend Schläge wie noch nie. Sie schrie vor Schmerz, doch ihr Vater prügelte weiter auf sie ein, als wollte er ihr jeden Funken Rebellion herausprügeln.
Am nächsten Tag saß Melissa allein beim Frühstück.
Sie straften sie mit Ignoranz. Sie hoffte, dass dieser Tag bald vorüber war, und freute sich schon auf den Montag, an dem die Schule wiederbegann.
Sie hatte keine Freunde, weil sie nie mit anderen spielen durfte, nie ein anderes Kind zu sich einladen konnte. Sie war auch in der Schule, anderen gegenüber sehr zurückhaltend und schüchtern.
So war sie auch unter anderen eigentlich alleine. Doch sie war in der Schule sehr viel lieber als zu Hause. Da war keiner böse und gemein zu ihr wie zu Hause. Sie hatte auch keine größeren Probleme beim Lernen und mochte ihre jungen Lehrer, die den Unterricht immer sehr spannend gestalteten.
Ein paar Monate später kam ihre Mutter eines Tages nicht wie gewohnt nach Hause. Keiner wusste, wo sie war. Melissas Vater wusste nicht, was passiert war und wo sie sich aufhielt. Bis er feststellte, dass sie offenbar das gemeinsame Konto bei der Bank völlig abgeräumt hatte, wofür auch immer. Da er dadurch in einer Zwangslage war und kein Geld mehr hatte, benachrichtigte er seine Mutter und bat sie, ihm zu helfen, auch Melissas wegen.
Am Tag darauf reiste Melissas Großmutter an und kochte und versorgte die beiden so gut sie es konnte. Mit ihr hatte Melissa bis dahin nicht viel Kontakt gehabt. Aber sie war sehr lieb zu ihr und sie mochte sie. So ging das eine ganze Woche und plötzlich stand Melissas Mutter in der Türe. Frech grinsend und mit Koffer und Tüten bepackt stand sie da. Sie war von heute auf morgen, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen, nach Spanien geflogen und verbrachte dort ihre Zeit mit Reiten.
Sie tat, als ob nichts gewesen wäre. Und das sollte nicht das letzte Mal gewesen sein, dass sie eine solche Aktion startete.
Melissa war damals noch zu klein, um das alles richtig verstehen zu können.
Heute hatte sie nur ein völliges Unverständnis für ihre Mutter über.
Dass sie ihr egal war, ja das hatte sie schon sehr früh erfahren müssen.
Durch das dauernde Verlangen nach Dingen wie Urlaub, teure Möbel und ihren geliebten Pferdesport, bekam ihre Familie Geldprobleme.
Melissa konnte sich auch noch sehr gut an ein Weihnachtsfest erinnern, an dem ihre Mutter eine komplette Reitausrüstung bekommen hatte und sie selber bekam nichts.
Durch die Geldprobleme nahmen ihre Eltern Kredite auf. Sie fuhren in den Ferien auch alleine auf Urlaub und ließen Melissa immer alleine bei ihrer Großmutter mütterlicher Seite zurück. So war das Jahr für Jahr.
Bis eines Tages das Geld nicht mehr reichte.
So beschloss Melissas Vater, sich in den Dienst der UNO zu stellen, weil er dort mehr verdiente.
Er war monatelang nicht zu Hause und Melissas Mutter war dauernd unterwegs. Sie ging zum Reiten, Tennis, Aerobic und in ihren geliebten Rock’n Roll Club zum Tanzen.
Melissa war sich dauernd selbst überlassen und hatte oft nicht einmal etwas zu essen für sich daheim. Sie konnte mit ihren 12 Jahren gerade mal Palatschinken und Kaiserschmarrn kochen, etwas anderes hatte ihr ihre Mutter noch nicht gelernt. Es war ihr einfach egal, ob ihr Kind etwas zu essen hatte, Hauptsache sie hatte ihren Spaß.
Melissas Vater schickte das ganze Geld nach Hause, da er ja in Israel nichts brauchte und am Stützpunkt bestens versorgt war.
Nur, dass ihre Mutter das Geld verprasste ohne Ende und ohne jede Rücksicht auf ihre Tochter. Es war immer, als ob sie nicht vorhanden wäre, es einfach nicht zählte, dass sie auf der Welt war.
Eines Tages, Melissa hatte wieder einmal nichts zu essen und ihre Mutter war wie so oft nicht zu Hause. Da überlegte sie, was sie tun konnte. Sie konnte sie nicht einfach fragen, das ging nicht. Das war etwas, was ihre Mutter ihr durch ein jahrelanges beantworten aller ihrer Bitten mit „Nein“, wie einen Stempel aufgedrückt hatte.
Damit hatte Melissa bis zum heutigen Tag ein großes Problem.
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