Mark trat wieder aus seinem Zimmer heraus. Sein Gesicht war düster und umwölkt.
»Es ist überhaupt nichts mit Tiser los«, sagte er böse. »Sedeman hat gesehen, wie er nach Hause kam, und hielt die Gelegenheit für günstig, mir Geld aus der Tasche zu locken. Tiser mag ja ein wenig grün im Gesicht ausgesehen haben. Dieser Besuch der Polizei ist mir viel unangenehmer...«
Plötzlich änderte sich sein Gesichtsausdruck, er ging schnell zu der einen Wand und schob eine Holzfüllung zurück, hinter der ein kleiner, grünlackierter Geldschrank sichtbar wurde. Er öffnete die Tür und nahm ein längliches Paket heraus.
»Das hatte ich ganz vergessen«, sagte er atemlos. »Das hätte ich eigentlich auch unten in den Behälter tun sollen, und doch geht das nicht!«
Er schaute hilflos auf das Paket, dann sah er Ann an.
»Das müßte eigentlich noch aus dem Haus gebracht werden.«
»Was ist es denn?« fragte sie schnell.
»Das ist die Ware für Oxford. Dort wartet mein Agent Mellun darauf.«
Wieder schaute er unschlüssig auf das Paket.
»Ich möchte nicht gern das Risiko eingehen.«
»Aber ich werde es auf mich nehmen«, erwiderte sie, und bevor er widersprechen konnte, hatte sie ihn schon verlassen.
Fünf Minuten später kam sie im Mantel zurück. Aber er zögerte immer noch, ihr das Paket zu übergeben.
»Die ganze Sache kann eine Falle sein – ich traue Sedeman nicht ... Womöglich steckt der mit Bradley und der ganzen Gesellschaft unter einer Decke. Ich möchte nicht, daß Sie sich der Gefahr aussetzen.«
Aber sie wußte instinktiv, daß er im Grund seines Herzens doch wünschte, daß sie die gefahrvolle Fahrt unternehmen solle und daß ihm alles daran lag, die Ware aus dem Haus zu schaffen.
»Vielleicht ist es das beste, Sie gehen einfach zur Themse und werfen das Zeug ins Wasser.«
Sie lachte über seine Nervosität.
»Das ist doch barer Unsinn!«
Sie nahm ihm das Päckchen aus der Hand und steckte es in ihre tiefe, innere Manteltasche.
»Wenn Ihnen aber etwas zustößt, dann werde ich auch in die Sache hineingezogen. Natürlich werde ich Ihnen in jeder Weise beistehen, aber wenn Sie mich hineinreißen...«
Sie starrte ihn entsetzt an und konnte kaum glauben, daß er es war, der so sprach.
»Aber ich werde Sie doch niemals hineinziehen, Mark. Wenn man mich faßt, dann ist das nur meine Angelegenheit.«
Mark kam ihr heute Abend sonderbar vor. Es mußte irgend etwas geschehen sein, das ihn vollständig aus der Fassung gebracht hatte.
Sie ging zur Garage hinunter, drehte das Licht an und prüfte, ob noch genügend Benzin im Tank war, bevor sie das äußere Tor öffnete und losfuhr. Kurz entschlossen wählte sie den Weg nach rechts, fuhr über das holperige Pflaster der Straße, dann zurück nach Portland Place und kam ohne weiteren Aufenthalt nach Regent 's Park.
Sie nahm die äußere Ringstraße und machte den größten Umweg, bis sie zur Avenue Road kam. Einige Minuten später sauste der Wagen Fitzjohn's Avenue hinunter nach Heath zu. Ann vermied den geraden Weg nach Oxford über Maidenhead und Henley und wählte eine wenig benützte Straße nach Beaconsfield und Marlow.
Schwerer war es schon, Henley zu umgehen. Sie fuhr gemächlich durch die breite Hauptstraße und glaubte sich unbeobachtet. Als sie aber die lange, mit Bäumen bestandene Oxford Road erreichte, wurde sie plötzlich angerufen. Schnell wandte sie sich um. In einer Seitenstraße hielt ein großer Wagen, dessen Scheinwerfer abgeblendet waren. Undeutlich sah sie, wie drei Leute dort standen, als plötzlich ein Mann auf ihr Trittbrett springen wollte.
Er sprang fehl, im selben Augenblick setzte sich das große Auto in Bewegung, und die drei sprangen auf. Anns Wagen flog wie ein Pfeil davon. Von dem Wagen hinter ihr wurde mit einer roten Lampe das Haltesignal gegeben. Es mußte eine Polizeistreife sein.
Sie hatte jetzt freie Straße vor sich, nur einmal war eine Kreuzung zu passieren. Ihre Geschwindigkeit war hundert Kilometer, als sie sich dieser Stelle näherte. Der Rückspiegel zeigte ihr, daß die Lichter des Polizeiwagens sich unruhig hin und her bewegten. Wahrscheinlich mußten sie stark bremsen. Dann hörte sie einen Knall – es mußte ein Reifen geplatzt sein. Diesen Laut kannte sie sehr genau.
Jetzt hatte sie eine scharfe Kurve der Straße hinter sich. Einen Kilometer von ihr entfernt lag ein kleines Dorf, dessen Häuser die beiden Straßenseiten flankierten. Ann erinnerte sich, daß jenseits des Ortes eine weitere Wegkreuzung lag, an der tagsüber ein Polizist stationiert war. Kurz hinter dem Dorf bog eine Seitenstraße nach Norden ab, und diese konnte sie nur sicher erreichen, wenn es ihr gelang, durch das Dorf zu fahren. Die Straße, die hindurchführte, war sehr eng. Der Geschwindigkeitsmesser zeigte jetzt sechzig Kilometer. Als sich Ann kurz umschaute, konnte sie von dem verfolgenden Polizeiwagen nichts mehr sehen oder hören, aber das wollte nicht viel besagen, denn die Straße verlief hier in vielen Biegungen und Kurven. Nun war sie dicht vor dem Dorf – sie verminderte die Geschwindigkeit auf fünfunddreißig Kilometer.
Plötzlich tauchte aus der Dunkelheit ein berittener Polizist auf. Sein Pferd wurde durch die Scheinwerfer unruhig. Offensichtlich wußte der Mann nichts davon, daß sie verfolgt wurde, denn er winkte ihr, vorwärts zu fahren. Aber plötzlich hörte sie seine schrille Alarmpfeife und steigerte die Geschwindigkeit wieder. Vom Ausgang des Dorfes ab konnte sie auf einer geraden Straße fahren, die erst kürzlich asphaltiert worden war – der Wagen raste durch die dunkle Nacht. Ihre Scheinwerfer ließen die Hecken am Weg grüngolden aufleuchten.
Sie näherte sich jetzt einer Brücke, die über einen reißenden, tiefen Strom führte. Als sie zu der Auffahrt kam, verminderte sie ihre Geschwindigkeit erheblich. Und dann sah sie plötzlich gerade vor sich zwei Scheinwerfer und über diesen eine grüne Lampe. Es war ein Streifenwagen.
Sie mußte sich schnell entschließen. Auf der Straße war kein Platz, um zu wenden. Wenn das Alarmsignal des berittenen Polizisten irgendeine Bedeutung hatte, so konnte es nur besagen, daß sie verfolgt wurde.
Ann drehte ihre Scheinwerfer ganz aus und brachte ihren Wagen mitten auf der Brücke zum Stehen. Dann nahm sie das kleine Paket, warf es ins Wasser, ging zu dem Auto zurück und fuhr langsam weiter.
Der Wagen, der ihr entgegenkam, fuhr ebenso langsam wie sie mitten auf der Straße. Sie drehte ihre Scheinwerfer voll an und gab das Signal zum Ausweichen. Aber das andere Auto machte keine Anstalten, zur Seite zu fahren. Sie konnte also nichts anderes tun als anhalten. Beide Wagen kamen dicht voreinander im selben Augenblick zum Stillstand. Ann sah, daß zwei Leute absprangen und auf sie zukamen. Dann hörte sie eine verhaßte Stimme.
»Ich möchte wetten, daß es Miss Perryman ist!«
Es war Sergeant Simmonds, der zu ihr sprach.
»Nun erklären Sie mir bitte, warum Sie in einem so halsbrecherisch gefährlichen Tempo gefahren sind!«
»Ich wüßte nicht, daß ich übermäßig rasch gefahren bin.«
Er brummte etwas vor sich hin.
»Sie sind verhaftet«, sagte er dann böse und rief einen seiner Leute, der ihren Wagen übernehmen sollte. »Steigen Sie bitte aus.«
Er packte sie fest am Arm.
»Lassen Sie mich los«, rief Ann entrüstet. »Sie brauchen mich nicht zu halten.«
Sie versuchte, sich frei zu machen, aber er ließ sie nicht los. Sie stand jetzt in dem grellen Licht der Scheinwerfer.
»Steigen Sie in diesen Wagen!« Er schob sie vor sich her, und als sie eingestiegen war, setzte er sich neben sie. Auf der anderen Seite nahm ebenfalls ein Detektiv Platz.
Der Beamte, der am Steuer ihres Wagens saß, fuhr rückwärts in die Hecke, um den Weg für das Polizeiauto frei zu machen.
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