Nachdem Jussef die Tür hinter sich zugeknallt hatte, verteilte Kuiper die Arbeiten. Trotz warmherziger Korrektur war das Klassenergebnis mit einem Durchschnitt von Vier-Komma-Fünf mehr als bescheiden. Kuiper wusste auch, dass eine Besprechung der Aufgaben im Klassenverband zwecklos war. Er hatte daher eine Musterlösung kopiert und mit ausgeteilt. Nur drei Teilnehmer, zwei Mädchen und ein Junge, der von seinen Mitschülern als Weichei angesehen wurde, beschäftigten sich damit. Es gab sogar zwei Verständnisfragen, die Kuiper im persönlichen Gespräch mit den Fragestellern klärte, während die restlichen Klausuren samt Musterlösung in Taschen und Täschchen gestopft wurden.
Anschließend fuhr Kuiper den Computer am Lehrerpult hoch und drückte den Einschaltknopf des hinter ihm an der Wand befindlichen Smartboards. Diese recht fortschrittlich-modern anmutenden Medien hatte man am Rolf-Rumpel-Berufskolleg im letzten Jahr geradezu flächendeckend in den Klassenräumen installiert. Sie waren auch der Grund dafür, dass man die BV-Schüler keine Minute ohne Aufsicht in den Klassenräumen verweilen lassen durfte.
Der Graue war ganz stolz auf ‚seine‘ Smartboards. „Das öffnet neue pädagogische Horizonte“, pflegte er zu sagen. Neue Medien = guter Unterricht, das war sein schlichtes Credo, beeinflusst von einer Heerschar Lerntheoretiker, die Computertechnik, Internet und Apps als pädagogische Heilsbringer verehrten. Für Kuiper waren Neue Medien hingegen zweckdienliche Hilfsmittel; guter Unterricht wurde seiner Meinung nach primär durch die Persönlichkeit der Lehrkraft bestimmt. Dementsprechend waren ihm die elektronischen Projektionsflächen recht. Sie halfen ihm dabei, seine Gruppe zumindest ansatzweise zu motivieren und anzuleiten. Die Hauptarbeit lag jedoch bei ihm.
„Wir hatten zuletzt über Produktivität gesprochen“, sagte er.
„Ja, wenn die Rockband schneller singt“, rief Jamal.
„Nee, eben nicht. Können die nicht, klingt doch scheiße, du Spast“, sagte Jamals Nachbar und schlug ihm die Kappe vom Kopf.
„Ich glaub‘, ich spinne“, fuhr Kuiper dazwischen. „Heb‘ die Kappe auf“, herrschte er den Übeltäter an. Erneut musste er die kaputte Platte auflegen. Diesmal verhalf sie ihm beim dritten Mal zum Erfolg.
„Wenn das noch mal vorkommt, sammel’ ich die Kappen alle ein“, drohte er.
Eigentlich sah die Hausordnung des Rolf-Rumpel-Berufskolleg ein Kappenverbot im Unterricht vor. Kuiper hatte jedoch, wie so viele seiner Kollegen, keine Lust, unnötige Energie damit zu verschwenden, dass er die Einhaltung dieses Verbotes strikt durchsetzte. Die Sache mit dem Einsammeln der Smartphones war schon nervenaufreibend genug. Angesichts des Vorfalls von vorhin überlegte er jedoch, seine Strategie zu ändern. Er seufzte.
„Schaut euch jetzt diesen Film an“, sagte er.
Der Computer war inzwischen hochgefahren, und Kuiper startete den Film, den er zuvor auf einem USB-Stick gespeichert hatte.
Gezeigt wurden Holzfällerarbeiten. Zunächst alte Aufnahmen in Schwarz-Weiß. Zwei Waldarbeiter mühten sich mit einer großen Säge ab, um einen ziemlich mächtigen Baum zu fällen. Die beiden kamen ganz schön ins Schwitzen. Der Stamm wurde bis knapp zur Hälfte durchgesägt. Dann schnappte sich einer der beiden eine große Axt und hieb mit gewaltigen Schlägen oberhalb der Schnittstelle auf den Stamm ein. Schließlich klaffte im Stamm ein recht großer Spalt. Erneut griffen die Männer zur Säge und setzten ihr Werk auf der anderen Seite des Baumes fort. Plötzlich sprangen sie wie von der Tarantel gestochen zur Seite. Rechtzeitig genug; der Baum fiel mit Karacho um. Schnitt. Gezeigt wurde jetzt ein Mann mit einer modernen Motorsäge. Ohne großen körperlichen Einsatz verrichtete er dieselben Tätigkeiten bei einem ähnlich großen Stamm. Der Baum fiel im Handumdrehen um. Die nächste Szene kam wieder in Schwarz-Weiß. Die altmodischen Holzfäller hatten sich mit Äxten bewaffnet und befreiten den Stamm von seinen Ästen. In der modernen Form übernahm das wieder ein einziger Mann, der mithilfe seiner Motorsäge ruckzuck fertig war. In diesem Stil ging es weiter. Entfernen der Baumrinde durch Schälmesser per Hand; als Kontrast dazu wurde der Stamm durch eine Schälmaschine gejagt, die ihr Werk innerhalb weniger Sekunden verrichtete. Dann wurde gezeigt, wie früher die Stämme durch Pferde aus dem Wald gezogen und mit menschlicher und tierischer Muskelkraft gestapelt wurden. Das übernehmen heute, wie die Schüler sehen konnten, Raupen und schwere Traktoren. Zum Schluss wurden zwei nebeneinander angeordnete Bilder präsentiert. Das linke in Schwarz-Weiß zeigte einen fertig behandelten Baumstamm und daneben die beiden Holzfäller mit ihren Werkzeugen: Säge, Axt, Schälmesser. Im Hintergrund erkannte man einen schweren Ackergaul. Über dem Bild stand: ‚Das schafften die beiden früher mit Hilfe ihres tierischen Freundes in einer Stunde‘. Daneben die moderne Form in Farbe: Ein Arbeiter mit Motorsäge, neben ihm sein Kollege, mit gekreuzten Armen neben einem Bagger stehend. Und einen Holzstapel. Im Hintergrund weitere Maschinen. ‚Und das schaffen diese beiden heute mithilfe ihrer technischen Freunde in einer Stunde’, lautetet die Überschrift. Der Holzstapel war in vier Reihen übereinander angeordnet. Es waren zwanzig Stämme.
Kuiper stoppte die Übertragung bei dieser letzten Einstellung.
„Was‘n das für‘n Scheiß?“, sagte Jamal.
„Kein Scheiß, Jamal. Produktivität“, antwortete Kuiper. „Ein Baumstamm in einer Stunde. Früher. Und heute?“
„Auch noch rechnen“, murrte jemand.
„Nur gucken und nachzählen, Leute. Mensch, wenn das Zigaretten wären, hättet ihr das doch blitzschnell erledigt.“
„Zwanzig, eh!“, rief Dragan.
„Richtig. Das ist Produktivität am Beispiel der Holzwirtschaft. Viel mehr Stämme in der gleichen Zeit. Mit modernen Maschinen statt mit alten Sägen und einem Ackergaul. Das bedeutet aber auch weniger Arbeit für die Menschen. Früher wären für eine Lieferung von zwanzig Stämmen die beiden Jungs zwanzig Stunden beschäftigt gewesen, heute arbeiten sie nur eine Stunde. Maschinen ersetzen menschliche Arbeitskraft. Immer mehr. Mit den ganzen modernen Computern wird alles noch krasser.“
„Müssen aber auch Leute da sein, die Maschinen un Computer bauen un reparieren“, wandte Raphael ein.
„Gut mitgedacht, Raphael“.
Kuiper war überrascht.
„Wie Raphael richtig sagt: Beim Bau von Maschinen werden viele Arbeiter eingesetzt“, fuhr er fort. „Menschen braucht man, um Maschinen zu entwerfen oder zu programmieren. Oder auch für’s Reparieren. Alles Tätigkeiten, bei denen man eine Menge Kenntnisse und Wissen benötigt. Schaut noch mal her!“
Kuiper blendete zwei Bilder ein. Das erste zeigte eine computergesteuerte Fertigungsanlage in der großen Halle eines Automobilherstellers, auf dem zweiten konnte man einen jungen Mann in der Uniform einer Zustellfirma erkennen, der mit einem großen Paket auf ein Wohnhaus zueilte.
„Viele ordentlich bezahlte Jobs werden von Computern übernommen. Was bleibt, sind vor allem die niedrig bezahlten Jobs für Dienstleistungen - Paketboten, Reinigungskräfte und so.“
„Hättisch kein‘ Bock drauf, Leuten irgendein Zeug hinterhertragen oder für die zu putzen - bah!“, gab Kimberley von sich.
„Was denkst du denn, was du mal machen willst?“, fragte Kuiper.
„Stewardess. Is ja auch ´ne - was sagten Sie - Dienstleistung.“
„Kannste vergessen, eh! Meine Schwester wollte sich da bewerben. Eine Stelle, tausend Bewerber“, wusste Dragan zu berichten.
„So ist es“, schaltete Kuiper sich ein. „Na, und wenn das eben nicht klappt, Kimberley?“
„Dann werd‘ ich eben Hartzer. Wie mein Alter“, sagte Kimberley.
„Das wollen wir nicht hoffen. Was ich jetzt sage, gilt nicht nur für Kimberley, sondern für euch alle. Ihr müsst was Ordentliches lernen, euch qualifizieren. Nur gut qualifizierte Leute haben eine Chance auf ordentlich bezahlte Arbeit.“
Читать дальше