Er wusste, dass sie innerhalb der nächsten zehn Minuten bei ihm klingeln und ihn mit irgendeiner Belanglosigkeit behelligen würde. Hauptsache, sie fand wieder ein Opfer. Er seufzte, aber er würde sich auf das Spiel einlassen.
Er betrat seine Wohnung. Die Zimmer waren picobello aufgeräumt, Bad und Toilette glänzten, im Kühlschrank standen keine Lebensmittel mit abgelaufenem Verfallsdatum. Auf Ordnung legte er großen Wert; nichts war in seinen Augen schlimmer als die Rückkehr in eine schlampige Wohnung.
Er setzte sich auf die Couch an seinem Wohnzimmertisch und wartete. Tatsächlich klingelte es nach acht Minuten.
„Schön, dass Sie wieder zurück sind“, sagte Frau Müller und strahlte ihn an. „Wie war es in Brasilien?“
„Anstrengend“, sagte er. „Großer Zeitunterschied. Jetlag. Ich glaube, ich muss mich gleich hinlegen.“
„Natürlich. Entschuldigen Sie. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass es keine besonderen Vorfälle gibt.“
„Danke. Ich bin froh, dass Sie so gut Acht geben. Obwohl es bei mir nicht viel zu holen gibt.“
„Aber Sie müssten doch mit Ihrer Arbeit auf Montage gut verdienen. Ich weiß das - mein verstorbener Mann war auch immer für seine Firma unterwegs und hat viel verdient. Leider hat er alles versoffen und mit irgendwelchen Huren auf den Kopf gehauen. Für mich blieb da nicht viel übrig. Und meine Witwenrente reicht hinten und vorne nicht.“
Er schloss für einen kurzen Moment die Augen. Frau Müller hielt es für ein Zeichen der Anteilnahme; er war jedoch lediglich genervt. Die Klagen kannte er zur Genüge, er hatte sie gefühlt zehntausend Mal vernommen.
„Hier in der Wohnung ist nicht viel, aber ich habe einiges gespart“, sagte er.
Er teilte ihr nicht mit, dass die so genannten Ersparnisse sich inzwischen zu einem hohen sechsstelligen Betrag addierten und auf einem Nummernkonto in der Schweiz lagen.
„Ist alles für meine Altersvorsorge“, fügte er hinzu.
„Dann fangen Sie ja sehr früh an. Sie sind doch noch so jung“, sagte Frau Müller kokett. „Was soll ich denn mit meinen fünfundfünfzig Lenzen sagen?“
„Man kann nicht früh genug anfangen. Mit fünfzig möchte ich aufhören. Der Job schlaucht mich doch sehr. Das merke ich ganz besonders, wenn ich von einer Reise zurückkehre.“
Frau Müller verstand den Wink.
„Na, dann will ich Sie nicht länger stören.“
„Danke, Frau Müller“
Er schloss erleichtert die Türe hinter ihr.
„Lästige alte Kuh“, murmelte er. Eigentlich hatte er sich für diese anonyme Hochhaussiedlung im Bremer Norden entschieden, um seine Ruhe zu haben. Der hässliche Betonklotz mit seinen sechzig Wohnungen eignete sich hierfür im Prinzip hervorragend. Viele Zu- und Wegzüge bei insgesamt überraschend wenigen Fällen von Vandalismus und Kriminalität. Wenn nur diese Frau Müller nicht wäre, die ihm regelmäßig auf die Nerven ging. Andererseits war es vielleicht nicht schlecht, einen so guten Wachhund auf der gegenüber liegenden Seite des Flures zu haben.
Seine Tarnung als biederer Montagearbeiter, der seine bescheidene Wohnung nur für wenige Monate im Jahr aufsuchte, hatte sie ihm jedenfalls bisher abgenommen. Sie hatte keine Ahnung von seinem Zweitleben in teuren Hotels und Appartements mit Escortservice und allem, was sein Herz begehrte. Finanziell unterfüttert durch die Zuwendungen, die er mit seinen Spezialaufträgen verdiente. Es wurden zusehends mehr. Sein Ruf sprach sich in einschlägigen Kreisen herum, inzwischen konnte er frei entscheiden, welche Aufträge er annahm und welche er ablehnte. Der letzte Auftrag hatte ihm glatte vierzigtausend D-Mark eingebracht. Ein üppiges, aber, wie er fand, angemessenes Honorar.
Er war in der Tat müde. Mit Brasilien und dem Jetlag hatte dies jedoch nicht das Geringste zu tun. Der sechsstellig entlohnte Auftrag hatte ihm einiges an Konzentration und auch körperlichem Einsatz abverlangt.
Ohne sich umzuziehen legte er sich auf sein Bett und schlief sofort ein.
„.... ist es hochinteressant, die Wandlung des Marienbildes von der Gottesgebärerin über die liebliche Madonna der Gotik bis zur bürgerlichen Frau in der Malerei und der bildenden Kunst nachzuvollziehen“, sagte Karin beim Frühstück am nächsten Morgen.
Kuiper brummte etwas Unverständliches und widmete sich weiter der Lektüre seiner Morgenzeitung. Karin blätterte derweil in dem Prospekt, den sie offenbar auf einer Veranstaltung ihres Madonnenkreises ergattert hatte.
„Wusstest du, dass die Entstehung des Marienbildes mit dem Jesuskind in die Zeit der Auseinandersetzung des frühen Christentums mit der seinerzeit noch lebendigen spätantiken Götterwelt hinein reicht? Und dass damit eine Abkehr von der ursprünglichen christlichen Forderung, sich kein Bild Gottes zu machen, verbunden war?“
Kuiper seufzte, ließ die Zeitung sinken und setzte ein überraschtes Gesicht auf.
„Nein - das war mir bisher völlig entgangen. Donnerwetter!“
„Ich sehe schon, das lässt dich alles wieder einmal völlig kalt“, sagte Karin und zog eine Grimasse. „Du und dein Wirtschafts- und Detektivgedöns!“
„Dieses Gedöns finde ich um Längen interessanter als irgendwelche Marienbilder oder Marienfiguren. War dieser Lackaffe von Schütz gestern auch wieder da?“
„Professor Schütz....“
„Emeritierter Professor.“
„Auf jeden Fall Professor. Er ist ein sehr gebildeter Mann.“
„Und ein unglaublicher Besserwisser. Von dem habe ich die Nase voll.“
Kuiper erinnerte sich mit Schaudern an den Abend vor zwei Wochen, als Karin ihren Madonnenkreis, an dessen Spitze sich der ehemalige Kunstprofessor Arnold Schütz im Zustand der Dauerprofilierung befand, nach Hause eingeladen hatte. Schütz war direkt mit den Worten: „Ah, der Gatte unserer reizenden Karin“ auf Kuiper zugestürzt und hatte ihn minutenlang mit langatmigen Erklärungen zum Marienkult zugetextet.
„Er von dir auch“, erwiderte Karin und verzog das Gesicht. „Du hast ihn ja auch ziemlich brüskiert.“
„Nur weil ich seinen Redeschwall mit den Worten ‚heilig, heilig, heilig’ gestoppt und mich dann dem Büffet gewidmet habe?“
„Nur? Das hat ihn erschüttert.“
„Sein Problem.“
Karin atmete tief durch.
„In dieser Hinsicht kommen wir einfach nicht zusammen.“
„Dafür in anderer Hinsicht. Wie lange bist du heute in der Schule?“
„Mein Unterricht geht bis eins, danach ist noch eine Konferenz. Ich denke, dass ich gegen fünf wieder zurück bin.“
„Wie wäre es, wenn ich uns etwas Schönes zum Abendessen mache? Paella zum Beispiel.“
„Da sag ich nicht nein.“
Karin stand auf und küsste ihn auf die rechte Wange.
„Bist irgendwie doch ein Schatz.“
„Danke für die Blumen. Übrigens - du auch.“
„Bis heute Nachmittag, du Ketzer!“
„Heilig, heilig, heilig.“
„Blödmann!“
Kuiper hatte den Tag im Kopf bereits durchgetaktet. Sein Unterricht ging heute nur bis halb zehn. Danach wollte er diesen Bericht für den Grauen fertig stellen. Um zwölf Uhr gedachte er bei Carla Woker zu sein. Auch wenn das Gespräch zwei Stunden dauern sollte, hätte er noch ausreichend Zeit zum Einkaufen und Kochen.
Im Flur vor dem Lehrerzimmer lief ihm der Graue über den Weg. Kuiper hatte den Verdacht, dass sein trefflicher Schulleiter bereits eine geraume Zeit auf der Lauer gelegen hatte.
„Herr Kuiper, denken Sie an den Bericht.“
„Da denke ich die ganze Zeit dran.“
„Und? Kommen Sie mit Ihren Nachforschungen voran?“
„Die Sache läuft, Herr Schönau. Aber es dürfte schwierig werden.“
In der Tat hatte Kuiper gestern Abend schon mit der Klassenleiterin seiner Parallelklasse, Frau Schmalke-Dieterhoff telefoniert und sie gebeten, sich in ihrer BV11 umzuhören. Er hatte das Gleiche in seiner BV12 vor. Vermutlich zeichnete einer der Schüler aus den Berufsvorbereitungsklassen für das anale Kunstwerk auf der Jungentoilette verantwortlich. Natürlich kamen auch einschlägig bekannte Aspiranten aus anderen Klassen in Betracht. Die Handelsschüler waren schließlich auch nicht ganz ohne. Deswegen hatte er nach dem Gespräch mit Frau Schmalke-Dieterhoff gleich noch zwei andere Kollegen angerufen. Aber die Schüler würden, wie fast immer in solchen Fällen, dicht halten.
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