„Die beiden Kümmeltürken sehen mit den Schaufeln aus wie Ritter mit Lanze“, sagte er grinsend.
Der andere ließ den fremdenfeindlichen Spruch unkommentiert und verzog keine Miene. Der Fahrer versuchte erneut, den jungen Mann, der ihm inzwischen etwas unheimlich wurde, zu einer freundlichen Äußerung zu bringen.
„Platz genug haben die ja alle in der Grube. Wird ˋne edle Hütte, was?“
Die Antwort bestand diesmal aus einer ungeduldigen Handbewegung. Der Fahrer seufzte, kurbelte das Fenster hoch und betätigte den Kippmechanismus. Den LKW hatte er genau richtig platziert; das hatte der andere Mann, der sich jetzt an die Baugrube stellte, um den weiteren Fortgang der Arbeiten zu überwachen, bereits festgestellt. Der feine Sand fiel teilweise in die Baugrube. So konnte der Baggerfahrer schon beginnen, diesen Teil in der Grube zu verteilen, während die beiden Arbeiter mit ihren Schaufeln den Sand, der sich jetzt noch vor der Grube befand, in schnellem Tempo nachlegten. In das Motorgeräusch des LKW, der inzwischen wieder mit herunter gelassenem Kipper etwas vorgezogen in der Auffahrt stand, mischte sich jetzt das Nageln des kleinen Dieselmotors der Rüttelmaschine. Der schweigsame Mann nickte zufrieden vor sich hin. Alle Mann bei der Arbeit!
„Die zweite Fuhre ist ungefähr in einer halben Stunde da.“
Der Fahrer hatte sich neben ihn gestellt.
„Gut.“
„Dann ist die Grube auch voll.“
„Ja.“
Der Fahrer gab auf. Ein Gespräch würde mit diesem Kerl niemals zustande kommen. ‚Blödes Arschloch’, dachte er, als er zu seinem Wagen zurückstapfte.
Dass der andere durchaus in der Lage war, freundlich und zudem eloquent aufzutreten, zeigte sich, als kurze Zeit später ein junges Pärchen auftauchte. Die Bauherren wollten sich ein Bild vom weiteren Gang der Arbeiten an ihrem Traumhaus machen. Was sie sahen, erfüllte sie mit großer Zufriedenheit.
„Toll - jetzt geht es ja richtig los“, sagte der Bauherr.
„Kein Wunder, bei einem so fähigen Bauleiter“, sagte die Frau und strahlte den jungen Mann an. Der sah richtig gut aus, fand sie. Gepflegt und modisch gekleidet. Braunes Cordjackett, beige Schlaghose, weißer Rollkragenpulli. Dazu die langen, exakt abgezirkelten Koteletten und der fesche Schnurrbart. Sie wandte jedoch den Blick schnell ab, weil sie spürte, dass ihr Mann wieder einmal eifersüchtig wurde. Heute sollte er keinen Grund für eine Auseinandersetzung haben.
Der Bauleiter war ebenfalls diplomatisch genug, die hübsche junge Frau nicht allzu lange zu fixieren.
„Na ja, das alles ist letztlich Teamwork. Planung und Ausführung, mit besonderem Blick auf Termintreue, Qualität und möglichst niedrige Kosten - dafür steht unser Büro mit allen dort arbeitenden Menschen. Aber es freut mich, dass Sie zufrieden sind.“
Der Bauherr nickte heftig.
„Auf jeden Fall.“
„Das Einzige, was mir noch Kopfzerbrechen bereitet, ist der Keller. Also der fehlende Keller, meine ich“, gab seine Frau zu bedenken.
„Darüber würde ich mir keine Gedanken machen“, erwiderte der Bauleiter. „Schauen Sie, die Grundfläche Ihres Hauses beträgt zweihundert Quadratmeter. Da benötigen Sie keinen Keller, auch wenn später mal mehr als zwei Personen dort wohnen werden. Wie ich übrigens sehe“, fügte er mit einem kurzen Blick auf den Bauch der Frau lächelnd hinzu“, werden es ja in Kürze auch mehr als zwei Personen sein. Wann ist es denn so weit?“
„Es soll Weihnachten kommen“, sagte die Frau und strahlte erneut. Mutterfreuden!
„Ja, ein Christkind. Wir freuen uns riesig“, schaltete sich ihr Mann ein. „Und wenn alles so läuft wie geplant, wirst du direkt vom Krankenhaus mit unserem Stammhalter hier einziehen können.“
„Das wäre ja ein Timing - perfekt“, sagte der Bauleiter. „Dann habe ich noch mehr Argumente, den Bau schnell voranzutreiben. Und was den fehlenden Keller anbelangt: Sie ersparen sich dabei auch einigen Ärger. Grundwasser, Feuchtigkeit - Keller sind anfällig für so etwas.“
„Siehst du, mein Schatz! Alles in bester Ordnung. Und in bester Qualität.“
„Das will ich meinen.“
„Schau gut hin“, wandte der Bauherr sich erneut an seine Frau und wies mit pathetischer Geste auf die Baugrube, in der unablässig weiter gearbeitet wurde, „da wird es in Kürze entstehen. Unser Traumhaus. Fest gemauert in der Erden...“
„Schillers Glocke“, schmunzelte der Bauleiter. Auch ihn hatte man, wie offenbar auch seinen Gesprächspartner, mit diesem Mammutgedicht in der Schule gequält.
„So ist es. Und quasi für die Ewigkeit gebaut. So, jetzt müssen wir uns aber beeilen, mein Schatz. Der Routinecheck für dich und unser Kind.“
Man verabschiedete sich höflich voneinander. Der Bauleiter lächelte den beiden hinterher. Je weiter sich das Paar entfernte, desto breiter wurde sein Lächeln. Dabei veränderte sich auch der Gesichtsausdruck. Hätten die Eheleute ihn so gesehen, wären sie entsetzt gewesen. Sie hätten in eine zynisch grinsende Fratze geschaut.
„Netter Käfer, die Kleine. Hast du nicht verdient, du Pfeife“, knurrte er.
Doch keiner hörte ihn und keiner achtete auf ihn. Der Baulärm war zu laut, und die Arbeiter waren zu sehr damit beschäftigt, den feinen Sand in der Baugrube zu verteilen und ordentlich zu verdichten.
Kuiper hatte es sich im kleinen Arbeitszimmer neben dem Kopierraum gemütlich gemacht. Sofern man das in einem Raum hinbekommen konnte, der sich erstens in einem muffigen Altbau befand und zweitens mit Billigmöbeln aus den späten Achtziger Jahren eingerichtet war. Immerhin, hier hatte er für die nächsten neunzig Minuten Ruhe. Das glaubte er zumindest. Zwei Springstunden, die er für die Korrektur der Klassenarbeit seiner BV12 zu nutzen gedachte. BV stand für den Bildungsgang, Berufsvorbereitung, die Eins für die Ausbildungsdauer von einem Jahr, die Zwei für Gruppe Zwei. Schlimmer als Gruppe Eins war sie, wie Kuiper zuverlässig wusste, weil er auch dort unterrichtete. Klassenlehrer war er jedoch in der Zwei, während Kollegin Schmalke-Dieterhoff sich mit der anderen Gruppe herumschlagen musste und dabei etwas weniger Stress hatte. Allerdings nur minimal weniger.
BV am Rolf-Rumpel-Berufskolleg war gleichbedeutend mit: Unterricht für die Ärmsten der Armen. BV war ein Sammelbecken für junge Menschen nach erfolgloser Schulkarriere weitab von Abitur oder Fachabitur und ohne Chancen auf eine Ausbildungsstelle. Sozialpädagogik unter dem Deckmantel einer Berufsqualifizierung. Fünf-Tage-Woche, drei davon mit Unterstützung staatlicher Trägergesellschaften als Praxiszeit in einem Betrieb, zwei am Rolf-Rumpel-Berufskolleg, angefüllt mit jeweils sechs Theoriestunden. Kuiper war in beiden Klassen für das Fach ˋGesamtwirtschaftliche Prozesse´ zuständig. Wenn Freunde und Bekannte ihn fragten, was er dort bewegen könne, erwiderte er: „Versuche mal, jungen Menschen, denen bisher immer nur gesagt wurde, dass sie zu blöde zum Pinkeln sind, abstrakte wirtschaftliche Sachverhalte nahe zu bringen. Das ist in etwa so leicht, wie einen Adipösen zu animieren, hundert Meter in Zehn Komma Null zu laufen.“
Brummend machte sich Kuiper an die Arbeit. Teil eins: Wissensfragen. Kimberley hatte die aktuelle Inflationsrate in Deutschland bei 2.600 Prozent veranschlagt, wobei hier offensichtlich eine Verwechslung mit der ebenfalls im Unterricht behandelten Preissteigerung in Venezuela vorlag. Kuiper überlegte, ob er hierfür, unter Einfügen eines wohlwollenden Kommentars - ´für Deutschland leider falsch, für Venezuela richtig´ - die halbe Punktzahl geben sollte.
Teil zwei: Wirtschaftliche Zusammenhänge. Es ging um den Begriff Produktivität. Kuiper hatte versucht zu erklären, warum die Produktivität in kapitalintensiven Branchen leichter zu steigern ist als in arbeitsintensiven Branchen. „Ein Unternehmen, das Autos herstellt, kann durch bessere Maschinen mit seinen Arbeitern an einem Tag locker mehr Autos herstellen“, hatte er gesagt. „Das bedeutet höhere Produktivität. Aber wie soll eine Rockbank an einem Abend mehr Stücke spielen, ohne länger auf der Bühne zu stehen? Die Stücke doppelt so schnell spielen?“ „Das klingt doch scheiße“, hatte jemand unter einhelliger Zustimmung der anderen gerufen. Die Sache hatte seinen Schülern offenbar eingeleuchtet. Jetzt schrieb Dragan: „Mehr Produktivitäht is wenn Jay Z schneller sinkt.“ Kuiper musste zunächst sein Smartphone zu Rate ziehen und erfuhr über wikipedia, dass es sich bei diesem Jay Z um einen Rapper handelte. Daher konnte er davon ausgehen, dass Dragan die Tätigkeit des Singens und nicht die des Sinkens meinte. Auch hier überlegte er, ob er Teilpunkte vergeben könne; schließlich lag Dragan mit seiner Erläuterung nicht völlig daneben, wenngleich er den Kern der Sache auch nicht wirklich getroffen hatte. Er wollte gerade eine Punktzahl notieren, als die Türe aufging und das freundliche Gesicht der Schulsekretärin, Frau Dinkel, hereinschaute. Hinter ihr gewahrte Kuiper die quadratische Gestalt des Hausmeisters. Klaus Thönne, aus naheliegenden Gründen, die mit seiner Statur zusammenhingen, allgemein Tonne genannt, war ein echtes Ruhrpottkind. So sprach er auch.
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