Nargo bat den jungen Jäger über seine Wanderungen an den Nordrand des Gebirges zu berichten und Mungo kam dieser Aufforderung voller Begeisterung nach.
Dort, so berichtete er, wo die letzten Berge sich hinunter in die weiten Ebenen der Steppe verliefen, gab es eine Art Paradies für jeden Stamm, der von der Jagd lebte. Die Steppen wimmelten nur so von jagdbarem Wild, lediglich auf die gewohnte Beute, die Gämsen, Steinböcke und Mufflons würde man teilweise verzichten müssen, denn sie kamen nur noch sehr spärlich dort vor. Stattdessen aber gab es dort riesige Herden von Hirschen unterschiedlichster Art, zahllose Gazellen und Antilopen, riesige wilde Rinder mit dichtem Pelz und noch weitaus riesigere mit glattem, pechschwarzem Fell und gewaltigen Hörnern. Er berichtete auch von Raubwild, das er in den Steppen gesehen hatte. Wölfe, deren Rücken ihm bis über die Hüfte reichten und Löwen, deren Schulterhöhe die eines groß gewachsenen Mannes erreichen konnten. Hyänen und Schakale, Otter und Marder aller nur erdenklichen Arten, Fuchs und Dachs, alles war vorhanden und alle fanden reichlich Nahrung.
In der Steppe gab es Gräser, an denen die Samen in dicken Ähren hingen und Kräuter und Wurzeln, Pilze und Farne, ja sogar große Bäume mit essbaren Früchten hatte er entdeckt.
Mungo beschrieb das Land so anschaulich, dass seine Zuhörer das Gefühl bekamen, schon selbst dort gewesen zu sein.
Nargo aber wollte am Ende von Mungos Bericht wissen:
„Du schlägst also vor, dass wir unser Jagdgebiet an den Rand des Gebirges verlegen und bis in das flache Land hinunter jagen? Und du bist dir sicher, dass das Urteil, das die Geister der Herden gegen uns gesprochen haben, dort nicht wirksam ist? Ist es das, was du uns sagen willst, mein Sohn?“
„Nur zum Teil. Ich will euch sagen, dass ich keinerlei Mühe hatte, dort Beute zu machen. Der Fluch der Geister wirkt sich dort nicht mehr aus. Ich will euch sagen, dass wir dort Jagdgründe finden werden, die unseren Stamm wieder stark und angesehen machen werden. Ich will euch aber auch sagen, dass es keinen Sinn macht, dort zu jagen und hier zu leben. Der Weg dorthin ist mühsam und beschwerlich und voller Gefahren. Ich fürchte, es würde uns mehr kosten dort zu jagen, als es uns einbrächte.“
Die Enttäuschung in den Gesichtern der Zuhörer war unübersehbar und riesengroß. Doch was hatte man sich denn erwartet? Was war von dem Bericht eines jungen Jägers zu erwarten, der noch kein Mann war und noch nicht in die Verantwortung für den Stamm eingebunden war? Die Versammelten unterhielten sich murmelnd und mürrisch über die vertane Zeit und über die unberechtigt geweckten Hoffnungen, dann aber wollte man sich wieder mit der Planung des Kampfes gegen den Nachbarstamm beschäftigen.
Mungos Auftritt vor der Stammesversammlung wäre zu Ende gewesen, hätte nicht der alte Schamane Singan etwas aus Mungos Bericht entnommen, das der Junge sich so einfach nicht zu sagen getraut hatte. Noch ehe Nargo seinen Sohn wieder wegschicken konnte, erhob sich Singan, wandte sich direkt an Mungo und wollte wissen:
„Mein Junge, du hast uns noch nicht alles gesagt. Da ist etwas, das du uns verschwiegen hast. Was ist es, das du dich nicht zu sagen getraut hast. Sag es ohne Scheu, sprich aus, was du weißt und was du denkst. Ich bitte dich darum.“
Niemand im Stamm hatte jemals erlebt, dass der Schamane um etwas gebeten hatte. Er und der Häuptling baten nicht, sie trafen Entscheidungen und der Rest des Stammes akzeptierte diese Entscheidungen. Doch extreme Situationen rechtfertigten ja vielleicht auch außergewöhnliche Handlungsweisen…
Mungo sah ein paar Atemzüge lang vor sich hin, dann hob er den Kopf, strich sich eine Strähne seines langen, fuchsroten Haars aus dem Gesicht und begann mit leiser Stimme erneut zu reden.
„Ja, ich habe etwas verschwiegen. Ich habe verschwiegen, dass ich euch vorschlagen wollte, diese Höhle, unser angestammtes Stammesgebiet, das Gebirge, einfach alles, was wir bisher als Heimat bezeichnet haben zu verlassen und nach Norden zu ziehen. Ich kenne den Weg und ich kann nicht versprechen, dass es eine leichte Wanderung werden wird. Im Gegenteil. Viele von uns werden unterwegs sterben, doch dann wird ihr Tod einen Sinn ergeben. Wenn wir aber hier bleiben und uns in einen irrsinnigen Kampf zwingen lassen, werden wir alle sterben.
Alle, aber ohne Sinn.“
Mungos Vorschlag war, als hätte er der Versammlung mit der geballten Faust ins Gesicht geschlagen. Ein junger Jäger schlug vor, die Heimat zu verlassen, das Stammesgebiet aufzugeben, in dem die Moak seit Generationen und aber Generationen vor ihnen gelebt hatten und gestorben waren?
Es wurde laut in der Versammlung. So laut, dass Nargo sogar befürchtete, es würde zu handfestem Streit und zu Raufereien kommen. Er sah zu Singan hinüber und er war froh, als er erkannte, dass der Schamane noch etwas zu sagen hatte. Außerdem war er erstaunt, als er in den Augen des Schamanen ein hoffnungsfrohes Glitzern und eine ungewohnte, von innen heraus kommende Kraft zu entdecken glaubte.
Nargo stand auf.
Er richtete sich zu seiner vollen Größe von etwas mehr als sieben Fuß auf und stieß mit dem Schaft seines Speers so lange auf den Boden, bis er sich in der Versammlung Gehör verschaffen konnte. Dann, als es ruhig geworden war, erteilte er Singan das Wort.
Die tiefe Stimme des Schamanen zog wie gewohnt die Versammelten rasch in ihren Bann.
„Ihr alle seid empört, über das, was euch ein junger Jäger vorgeschlagen hat. Ihr alle wollt lieber zusammen mit unserem Häuptling den Weg der Ehre gehen und lieber hier, in unserem Heimatgebiet sterben, als davon zu laufen. Ich verstehe euch und doch muss ich euch sagen, dass der Junge mit seinem Vorschlag Recht hat.
Ich war in den letzten Nächten immer wieder auf Geistreisen und ich habe gesehen, dass unser Stamm sich verändern muss. Die Geister haben es mir gezeigt, doch ich habe es nicht verstanden. Sie haben mir eine Höhle gezeigt, von der aus der Blick ungehindert in weite Fernen schweifen kann und sie haben mir die Herden gezeigt, die der Junge uns beschrieben hat. Doch ich habe die Botschaften nicht verstanden. Nun, da ich Mungos Berichte gehört habe, weiß ich, was die Geister mir zu verstehen gaben.
Wir müssen unsere angestammte Heimat verlassen.
Wir müssen uns auf eine lange und gefährliche Wanderung begeben und es wird einer großen Menge Mutes und viel Kraft bedürfen, um unser Ziel zu erreichen, Viele von uns werden es nicht erreichen, doch das ist nicht von Bedeutung. Viele von uns sind schon sinnlos gestorben und – Mungo hat es richtig erkannt – wir alle werden sinnlos sterben, wenn wir kämpfen. Doch wenn nur eine Handvoll von uns die Wanderung überlebt, werden auch die Moak weiterleben.
Das ist es, wozu wir verpflichtet sind.“
Betretenes Schweigen war die Folge auf Singans Vortrag. Langes Schweigen und dann begannen die zähesten Versammlungsgespräche, die man jemals in einem Stamm der Berge erlebt hatte.
Am Ende setze der Schamane sich durch, die Moak wollten, dass ihr Stamm überlebte.
Nachdem die Entscheidung erst einmal gefallen war, zögerte der Stamm nicht mehr. Schon wenige Tage später war alles auf die Schleppstangen der Travois geladen, was der Stamm in die ungewisse Zukunft mitnehmen wollte. Sie würden sich schwer bepackt auf die Wanderung machen, doch wenn sie die neue Heimat erreichten, würden bald alle Mühen vergessen sein.
Mungo hatte alles beobachtet und er hatte immer wieder davor gewarnt, sich mit so schweren Lasten auf die Wanderung zu begeben.
„Wir haben Wege zu gehen, die für einen Jäger mit kleinster Ausrüstung gefährlich sind. Wie wollt ihr da eure schweren Lasten durch bekommen? Lasst alles hier. Nehmt eure Waffen und ein Schlaffell mit, mehr brauchen wir nicht. Die Frauen sollen einen Grabstock und jede einen Sammelkorb mitnehmen und das muss genügen. Selbst Singans Schmiedewerkzeug muss zurück bleiben, denn nur wenn wir mit kleinstem Gepäck reisen, haben wir Aussicht auf Erfolg, nur dann können wir damit rechnen, dass möglichst viele von uns den Weg durch das Gebirge überstehen.“
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