Unverdrossen behauptete Distal seinen Standpunkt, er gehöre nicht zum Stamm der Moak und dessen Gesetze müssten ihn deshalb nicht kümmern. Er war der Meinung, er habe sich ehrenvoll und verantwortungsbewusst verhalten, denn seine Aufgabe war es, den Reichtum und das Ansehen seiner Familie und der Stadt Zegan zu mehren und nicht die dümmlichen Gesetze eines Stammes zu achten, dessen Lebensweise ihm ohnehin zuwider war. Je länger er redete, desto aggressiver wurde er und dann verstieg er sich sogar zu der Behauptung, dass er eigentlich mit den Moak rein gar nichts zu tun habe. Er sei reinblütiger Zeganit und sein echter Vater entstammte einer der edelsten Familien der Stadt. Dingo sei nur sein Ziehvater, weil seine Mutter mit diesem aus politischen Gründen und unter Zwang verheiratet worden war. Noch einmal verlangte er kategorisch die Herausgabe der beiden weißen Felle und seine Entlassung aus dem Stamm, um heimkehren zu können.
Die Mitglieder des Stammesgerichts hatten Distals Ausführungen fassungslos zugehört und sahen sich mit einem wirklich schwerwiegenden Problem konfrontiert, das sich vielleicht gar nicht lösen ließ.
Was, wenn die Behauptungen des Jungen stimmten? Was, wenn er tatsächlich reinblütiger Zeganit war?
Das Problem löste sich auf eine überraschende Art, denn ohne Vorankündigung und gänzlich unerwartet erreichte in der Mitte des Vormittags ein Reisender die Höhle, den man schon lange nicht mehr im Stammesgebiet gesehen hatte. Distals Vater war von seinem Handelsposten ins Gebirge herauf gestiegen, weil ihn eine böse Ahnung und schlimme Träume dazu gezwungen hatten. Dingo trat nun ebenfalls vor das Stammesgericht. Nargo informierte ihn rasch über alles, was geschehen und gesagt worden war, dann wurde Dingo vom Stammesgericht gehört.
„Ich weiß nicht, was meinen Sohn antreibt und weshalb er seine Herkunft und sein Blut derart verleugnet. Doch es nicht von Bedeutung. Ich bin sein leiblicher Vater, daran besteht nicht der geringste Zweifel. Distal ist zur Hälfte Moak und unterliegt den Gesetzen des Stammes. Doch selbst wenn das nicht der Fall wäre, spielte es keine Rolle, denn die Gesetze Zegans unterscheiden sich in solchen Fällen in nichts von unseren Gesetzen. Ich war in der Stadt, als mich meine Ahnungen überfielen und so habe mit dem obersten Schamanen der Stadt reden können. Die Stadt verlangt die strengste Bestrafung, die nach den Gesetzen der Moak möglich ist und der Schamane bittet Singan sich mit ihm im Geist zu vereinigen, damit sie gemeinsam die Herden um Verzeihung bitten können. Das ist es, was ich zu sagen habe. Nun sollen die Moak entscheiden.“
Die Gefühle, die bei den Worten seines Vaters durch Distals Inneres tobten, zeichneten sich auf seinem Gesicht deutlich ab und wer ihn nun sah, wünschte sich, die Gesetze der Moak würden Distals Tod ermöglichen. Der Junge war zum lebendig gewordenen Hass geworden. Eine Verkörperung der schrecklichsten Gefühle, zu denen ein Mensch fähig sein kann, so saß er auf seinem Platz und sein ganzer Hass galt zunächst seinem Vater und dann Nargo und dem ganzen Stamm Moak.
Wie aber ging man mit solchen Gefühlen eines Angeklagten um?
Das Stammesgericht beriet lange und sorgfältig. Dann sprach es die höchstmögliche Strafe aus.
Distal wurde nicht nur aus dem Stamm der Moak sondern aus jeder menschlichen Gemeinschaft ausgestoßen. Er würde den Rest seines Lebens selbst dann in Einsamkeit verbringen, wenn er sich mitten unter zahllosen Menschen aufhielt, denn das Urteil würde ihm als Stigma auf der Stirn eingebrannt werden. Kein Stamm, keine wie auch immer geartete menschliche Gemeinschaft würde ihm in Zukunft mehr Nahrung und Unterkunft geben und er musste zusehen, wie er nur auf sich selbst gestellt überleben konnte.
Das Urteil sah kein Ende der Strafe vor. Distals uneinsichtige Haltung, seine Arroganz und die Verleugnung seiner Abstammung hatten den Stammesrichtern als Anlass gedient, die Ausstoßung unwiderruflich zu machen.
Distal sollte sterben.
Nargo, Dingo und Singan verkündeten das Urteil gemeinsam und Wento stand bereits mit dem glühenden Eisen bereit, um das Stigma der Schande unauslöschlich auf Distals Stirn einzubrennen. Dingo und Nargo, Distals Vater und Distals Erzieher übernahmen es, den Jungen festzuhalten und als der Gestank verbrannter Haut über den Platz zog, wusste der gesamte Stamm, dass Distal gestorben war ohne tot zu sein.
Am Abend saßen Dingo und Nargo gemeinsam an einem der großen Kochfeuer und unterhielten sich. Sie waren beide in bedrückter Stimmung, was leicht zu verstehen war. Distal war unmittelbar nach seiner Stigmatisierung zu seinem Schlafplatz gehumpelt, hatte seine Habseligkeiten zusammen gesucht und gleich darauf hatte er die Höhle der Moak verlassen. Er war nach wie vor von einer Aura des unversöhnlichen Hasses umgeben, als er weg ging und er unternahm nicht einmal den Versuch, sich von irgendjemand zu verabschieden. Es hätte ohnehin nichts genützt, denn niemand würde mit einem Toten gesprochen haben.
Mungo hatte das Stammesgericht und die Verurteilung mit gemischten Gefühlen beobachtet. Er saß neben seinem Vater, lauschte mit halbem Ohr der eher belanglosen Unterhaltung seines Vaters und seines Onkels, dabei starrte er blicklos vor sich hin, dabei hing er seinen eigenen Gedanken nach. So entging ihm, dass sich auch Singan zu ihnen gesellte. Erst als dessen tiefe Stimme ihn erreichte, wurde er aufmerksam und sah hoch.
„Auch unser junger Jäger hier hegt Zweifel an der Richtigkeit des Urteils. Habe ich recht?“
Mungo war entgangen, was der Schamane vor diesem Satz gesagt hatte, dennoch antwortete er nach kurzem Überlegen.
„So ist es, würdiger Schamane. Ich kann mir nicht vorstellen, dass unser Urteil den Frevel Distals auslöschen und die Geister der Herden wieder beruhigen wird. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass dies nicht der Fall sein wird und dass es völlig belanglos ist, was mit Distal geschieht. Wir alle haben diesen Frevel zu verantworten, denn wir alle haben versagt. Ich denke, die Geister der Herden werden sich nicht die Mühe machen, so genau nachzuforschen und sich in ihrer Rache auf Distal begrenzen. Ich fürchte, die Bewohner der Berge werden unter Distals Verhalten zu leiden haben und nicht nur die Moak. Deshalb hätte man Distal auch mit einer sehr viel milderen Strafe davonkommen lassen können. Das Urteil des Stammes ist meiner Meinung nach unmenschlich in seiner Härte.“
Die drei erwachsenen Männer starrten den jungen Jäger mit betroffenen Gesichtern an, denn mit derart deutlichen Worten hatten sie nicht gerechnet. Selbst der Schamane sprach nie so deutlich aus, was er aus der Welt der Geister in Erfahrung gebracht hatte.
„Auf was begründest du deine Auffassung, mein Junge? Bist du neuerdings unter die Schamanen gegangen?“
Nargo war auch dann noch Häuptling, wenn er persönlich von einer Situation betroffen war und als Häuptling stand es ihm zu, auch provozierende Fragen zu stellen.
„Ich bin weder Schamane geworden, noch habe ich vor, diesen Schritt jemals zu tun. Doch ich bin Jäger und ich bin im Geist unseres Stammes erzogen worden.
Ich kann es nicht erklären, aber ich war es, der wusste, dass alle Hindinnen der Herde tragend waren, nicht Marik. Ich habe Marik noch vor Distal gewarnt, ehe wir das Hochtal erreichten und ich bin mit einem dumpfen Gefühl im Bauch losgezogen, als uns Marik zur Umzingelung der Herde aufgefordert hat.
Wir haben vom Schamanen gelernt, dass alles Leben auf der Erde eine gemeinsame Wurzel besitzt und dass aus diesem Grund auch alles Wissen allen Lebewesen gleichermaßen zur Verfügung steht.
Wenn das stimmt, gehen wir schweren Zeiten entgegen. Ich ahne es.“
Mungo war beinahe über sich selbst erschrocken, als er seine Rede zu Ende gebracht hatte, denn er hatte über Dinge gesprochen und Worte benutzt, die eines Mann würdig gewesen waren, nicht eines jungen Jägers, der erst auf dem Weg war, ein Mann zu werden. Auch die Freizügigkeit, mit der er den drei angesehensten und ranghöchsten Männern der Moak geantwortet hatte, ging weit über das hinaus, was einem jungen Jäger zustand.
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