Marik hatte Nargos Anweisungen auf dem Weg herauf noch einmal wiederholt und verlangt, dass die Anweisungen des Häuptlings ohne wenn und aber eingehalten wurden. Dies umso mehr, als die meisten der weiblichen Hirsche – auch die beiden weißen Tiere – tragend waren.
Die Hirsche fühlten sich absolut sicher. Keines der Tiere wurde auf die sich anpirschenden Jäger aufmerksam und wenn doch, ließen sie sich trotzdem nicht beim Äsen stören. Es war als wussten sie, dass sie nicht gejagt werden sollten. Die Jäger waren im Schutz einer dicken Nebelbank bis auf wenige Schritte an die Hirsche heran gekommen und nun gab Marik durch Handzeichen zu verstehen, dass sich Mungo mit den vier anderen jungen Jägern daran machen sollten, die Herde zu umgehen und eine komplette Umzingelung auszuführen. Er selbst und Distal wollten hier im Schutz des Nebels warten, bis die anderen ihr Manöver zu Ende gebracht hatten.
Mungo war der Jüngste der Vier, die sich nun auf den Weg machten. Noch nicht ganz vierzehn Jahre alt, doch keiner der anderen Jäger stellte seinen Führungsanspruch in Frage. Er war in vielen Dingen der Anführer der Jungen und im ganzen Stamm rechnete man damit, dass Mungo eines Tages die Nachfolge seines Vaters Nargo antreten würde. Auf den zahlreichen Jagdausflügen mit den jungen Jägern hatte er diese Nachfolge sogar schon weitgehend vollzogen. Nun führte er seine Gruppe auf eine großzügige Schleife, um die Hirsche, wie verlangt zu umstellen. Sie machten ihre Arbeit perfekt. Kein Geräusch war zu hören, als sie durch den Nebel huschten, kein Schmatzen, wo ein Mokassin im Schlamm stecken blieb, kein Knacken von einem trockenen Ästchen, nicht einmal das Rauschen eines Zweiges, an dem ein schleichender Mensch kurz gestreift hatte, nichts. Wie Geister bewegten sich die jungen Jäger durch den Nebel und auch außerhalb der Nebelbank verhielten sie bereits so geschickt, wie alte, erfahrene Jäger. Die Umzingelung wurde vollzogen, ohne dass die Hirsche auch nur im Geringsten beim Äsen gestört wurden.
Marik hatte die jungen Jäger voller Stolz beobachtet, denn einen großen Teil ihrer Fähigkeiten hatten sie ihm zu verdanken. Er hatte mehr Spaß daran, die jungen Jäger auszubilden, als alle anderen Männer der Moak. Und die jungen Jäger mochten Marik unheimlich, auch wenn er ein sehr strenger Ausbilder war.
Nun war die Umzingelung vollendet und Marik gab das Signal, den Kreis enger zu machen und sich bis auf den kleinstmöglichen Abstand an die Hirsche anzuschleichen. Eine anspruchsvolle Aufgabe, die auch von einem erfahrenen Jäger jede Konzentration verlangte. Marik wäre kein Jäger und auch kein guter Ausbilder gewesen, hätte er diese Bewegung nicht mit gemacht. Er glitt über den feuchten Boden wie eine große Schlange und die Jagd hatte ihn voll im Griff. So vergaß er, sich weiter um Distal zu kümmern.
Distal war trotz seiner Jugend bereits ein fanatischer Trophäenjäger. Wenn er jagte, interessierte ihn das Wildbret nur begrenzt. Er war es gewohnt, dass Menschen auch ohne zu jagen gut leben konnten. Distal ging davon aus, dass er irgendwann nach Hause zurückkehren würde und dann wieder ohne den Zwang zur Jagd leben konnte. Jetzt, da er die Hirsche in nächster Nähe vor sich hatte, funkelten seine Augen gierig, denn das Fell eines weißen Hirschs würde im Handelsposten seines Vaters eine absolute Sensation darstellen. Was scherte ihn die Anweisung Nargos und was musste ihn, den halben Zeganiten der Aberglaube der Moak kümmern? Heilige Hirsche! Wo gab es denn so etwas? Ja, natürlich würden die weißen Hirsche heilig sein, nämlich dann, wenn sie als fein gegerbtes Fell hinter der Ladentheke im Handelsposten hingen und noch mehr Leute anlockten, als es ohnehin der Fall war.
Distal wartete, bis Marik ungefähr zehn Schritte voraus war, dann nahm er vorsichtig seinen Bogen von der Schulter, hängte lautlos die Sehne ein und machte ihn so schussbereit. Jetzt öffnete er die Schutzklappe seines Köchers und entnahm diesem zwei Pfeile mit eisernen Spitzen. Die Pfeile waren lang und gerade und dreifach gefiedert. Jeder Jäger führte die Befiederung seiner Pfeile mit Federn in seinen Lieblingsfarben aus. Distals Pfeile waren mit lackschwarzen Krähenfedern befiedert.
Seine Position war perfekt, er konnte die Hirsche gar nicht verfehlen. Der Abstand zu den beiden weißen Tieren betrug nicht mehr als dreißig Schritte und obwohl er nicht zu den guten Bogenschützen bei den Moak gehörte, traf er auf diese Entfernung hin jedes beliebige Ziel, das nicht kleiner war, als sein Handteller. Er legte den ersten Pfeil auf und spannte den Bogen. Er nahm zuerst die etwas links außen an der Herde stehende Hindin aufs Korn, spannte die Bogensehne bis an sein Ohr, zielte sorgfältig auf die Stelle hinter dem Ellbogen des Hirschs, wo er mit Sicherheit das Herz treffen würde und dann ließ er den Pfeil fliegen.
Es war, als würde die Zeit stehen bleiben.
In dem Augenblick, da Distal die Finger an der Bogensehne öffnete und den Pfeil absandte, hatte sich Marik umgedreht und erkannt, was der Junge vor hatte. Er öffnete den Mund, stieß einen gellenden Warnschrei aus, doch zu spät. Der Pfeil traf sein Ziel mit tödlicher Präzision, die Hindin brach wie vom Blitz getroffen zusammen und gab so das Schussfeld frei, das Distal brauchte, um auch den zweiten Pfeil ins Ziel zu bringen.
Auch dieser Pfeil traf genau dort hin, wo er sofort tödlich war, auch die zweite weiße Hindin brach zusammen und lag mit zuckenden Läufen auf dem Boden. Der Rest der Herde brach nun in wilder Flucht durch die jungen Tannen davon.
Distal fühlte nur Triumph. Er hatte zwei Pfeile abgeschossen und zwei rein weiße Hirschfelle erbeutet! Das war noch keinem Jäger im Stamm gelungen. Er sprang auf, ließ den Bogen fallen, rannte auf seine Beute zu und wollte sich mit seinem Jagdmesser an die Arbeit machen und sich seine Trophäen zu sichern.
Marik und die anderen jungen Jäger standen wie versteinert auf ihren Plätzen. Keiner von ihnen vermochte zu begreifen, was da so eben geschehen war. Erst ganz allmählich sickerte es in ihre Köpfe ein.
Einer aus ihrer Gruppe hatte zwei heilige Hirsche getötet! Zwei weiße Hindinnen, also ohnehin heilige Tiere und in diesem Fall doppelt heilig, weil Marik und Mungo sie beide als tragend bezeichnet hatten!
Marik löste sich als Erster aus der Erstarrung. Mit wahren Panthersätzen raste er auf Distal zu und erreichte den Jungen, noch ehe dieser bei einem der toten Hirsche niederknien konnte und mit dem Abbalgen beginnen konnte.
Vor Mariks Augen hatte sich ein roter Schleier der Wut gelegt. Sein Gesicht war zu einer hässlichen Fratze verzerrt und als er neben Distal zum stehen kam, schlug er mit all seiner Kraft hemmungslos zu. Er war Schmied und gehörte zu den stärksten Männern des Stammes und so war es kein Wunder, dass der Junge mehr als drei Schritte durch die Luft flog, als ihn Mariks Faust seitlich am Schädel traf. Distal schrie gellend auf, überschlug sich auf dem nassen Boden und dann war Marik schon wieder über ihm, packte ihn mit der linken Faust an der Brust, krallte seine Finger in das Leder dessen Jagdhemdes und dann schlug er erbarmungslos auf Distal ein. Wieder und immer wieder krachte seine harte Faust auf den Jungen herunter und erst als Marik spürte, dass der Junge nur noch wie ein nasser Lappen in seinem Griff hing, ließ er ihn fallen. Doch dann begann er mit den Füßen auf ihn einzutreten.
Möglicherweise hätte Marik den Jungen tot geschlagen, wäre da nicht Mungo aufgetaucht und hätte sich ihm an den Arm gehängt und ihn laut angebrüllt und verlangt, Marik solle aufhören. Irgendwie drang Mungos Stimme durch die rasende Wut Mariks, erreichte dessen Verstand, Marik kam wieder zu sich und brach neben dem mehr tot als lebendig am Boden liegenden Distal zusammen.
Der große, starke Mann begann hemmungslos zu weinen, denn er betrachtete das, was geschehen war, als sein persönliches Versagen. Er war der Anführer der Jagd gewesen, er war für den Gehorsam der jungen Jäger zuständig gewesen und er hatte Distal aus den Augen gelassen, obwohl er das Jagdfieber, die Sucht nach den seltenen Trophäen dort hatte blitzen sehen.
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