Es dauerte lange, bis Marik wieder ansprechbar war und auch dann brachte er nur noch die notwendigsten Worte hervor. Einsilbig erteilte er Anweisung, zwei Travoischlitten zu bauen und die toten Hindinnen aufzuladen. Sie mussten zur Höhle gebracht werden, damit der Schamane, der alte Singan die notwendigen Zeremonien durchführen und die Geister vielleicht wieder beruhigen konnte.
„Was soll mit Distal geschehen?“
Mungos Frage war durchaus berechtigt, denn der Junge lag bewusstlos im Dreck, atmete nur noch flach und war ganz sicher nicht in der Lage, aus eigener Kraft zur Höhle zurück zu kommen.
Der Heimweg war nicht nur mühsam und Kräfte raubend, sondern auch von großer Bedrücktheit geprägt. Distal lag auf einem der beiden Travois auf der Leiche der toten Hindin und er war immer noch bewusstlos.
In Marik und den fünf jungen Jäger aber wuchs die Angst vor den Folgen des Sakrilegs, das einer der ihren begangen hatte, je näher sie der heimatlichen Höhle kamen. Es gab keinen vergleichbaren Vorfall in den Erzählungen der Stämme, niemals hatte ein Jäger – ein junger Jäger noch dazu – auf derartige Weise gegen die Gesetze und Tabus der Stämme verstoßen. Die Einmaligkeit des Ereignisses war so, dass sich auch Marik nicht schlüssig wurde, was dieses Sakrileg bedeuten konnte.
Der Heimweg dauerte lange und sie erreichten die Höhle erst, als die Sonne schon untergegangen war. Der Großteil der Stammesangehörigen saß noch auf der großen, freien Fläche vor der Höhle, wo sich das Leben während der schneefreien Zeit hauptsächlich abspielte. Acht große Kochfeuer brannten und es roch köstlich, denn die Frauen hatten das Abendessen zubereitet.
Als Marik mit seiner traurigen Truppe den Platz vor der Höhle erreichte, wurde er zunächst mit den üblichen gutmütigen Spötteleien empfangen, doch dann erkannten die ersten Stammesangehörigen, was auf den Travois lag und so war es totenstill auf dem großen Vorplatz, als Marik vor den Häuptling trat, sich auf den Boden kniete und so wartete, bis Nargo ihn ansprach.
Nargo war dem Stamm stets ein sehr guter Häuptling gewesen. Seine Fähigkeiten waren unbestritten, seine Entscheidungen fanden immer großen Anklang und wenn er ein Urteil sprechen musste, wurde es immer als gerecht empfunden. Nargo war auch ein bedächtiger Mann, einer der manchmal etwas lange überlegte, doch wenn er dann entschied, waren seine Entscheidungen immer zu Gunsten des Stammes getroffen.
Jetzt stand Nargo von seinem Platz am Feuer auf und ermahnte Marik zunächst, nicht vor ihm zu knien, denn selbst der Häuptling hatte keinen Anspruch auf eine solche Erniedrigung eines Menschen.
„Ich knie nicht vor dir, mein Freund und Häuptling, ich knie vor meinem Schicksal. Sieh, was geschehen ist und du wirst verstehen, weshalb ich knien muss.“
Nargo trat langsam zu den Travois und starrte auf die beiden weißen Hindinnen und den bewusstlosen Distal und jeder, der nahe genug stand, konnte erkennen, wie der Häuptling unter seiner Sonnenbräune bleich wurde und seine Gesichtszüge zu einer Art Maske erstarrten. Er atmete schwer, seine Fäuste ballten sich zusammen, die Fingernägel gruben sich so tief in seine Handballen, dass Blut hervor zu sickern begann, sein Gesicht mit den geschlossenen Augen war in den Himmel gerichtet und Nargo kämpfte um seine Fassung und seine Selbstbeherrschung.
Lange blieb er regungslos, erst als der Schamane Singan neben ihm auftauchte und seine Hand auf die Schulter des Häuptlings legte, kehrte dieser in die Gegenwart und die reale Welt zurück. Er und Singan wechselten einen kurzen Blick, dann drehte Nargo sich zu Marik, winkte ihn zu sich her, gemeinsam mit Singan setzten sie sich ein wenig abseits und Nargo verlangte einen genauen Bericht.
Marik erzählte, was geschehen war. Er ließ nichts aus und er beschönigte auch nichts. Selbst davon berichtete er freimütig, dass er zwar das Glitzern der Gier in Distals Augen gesehen, aber nichts dagegen unternommen hatte. Nicht einmal besonders wachsam war er deswegen geworden und so sah er alle Schuld am Geschehen bei sich selbst.
„Ihr werdet mich verstoßen und mit dem Fluch belegen, das weiß ich und ich werde meine Strafe dankbar annehmen, wenn damit vom Stamm abgewendet wird, was ich befürchte.“
„Das mein Junge, hast nicht du zu entscheiden, das entscheidet das Stammesgericht. Also warten wir ab. Aber du hast recht getan, die toten Hindinnen mit zu bringen, das war umsichtig gehandelt und verschafft uns vielleicht die Möglichkeit, Verzeihung bei den Herden zu erlangen. Ich werde mich darum bemühen.“
Singans tiefe Stimme verklang, doch der Klang der Stimme und die Anerkenntnis dessen, was er zuletzt doch noch richtig gemacht hatte, tröstete Marik ein klein wenig. Doch als Singan weiter sprach, war aller Trost sofort wieder verflogen.
„Den Jungen, Distal, hast du beinahe zu Tode geprügelt. Weshalb hast du es nicht zu Ende gebracht?“
„Viel fehlte nicht mehr, dann hätte ich es getan. Doch Mungo und seine Freunde haben mich daran gehindert. Mungo war der Meinung, dass dadurch nichts besser würde und dass Distals Strafe nicht so leicht sein durfte. Distal war Mungos Meinung nach schon immer viel zu milde behandelt worden. Dieses Mal sollte er die volle Konsequenz seiner Handlung tragen müssen.“
Singan wandte sich an Nargo:
„Du hast einen klugen Sohn, Häuptling. Einen sehr klugen Sohn. Wenn nur dein Neffe auch ein klein wenig von der Klugheit Mungos besäße.“
Fünf Tage lang fastete der Schamane. Fünf Tage lang ertönte der tiefe Klang seiner Stimme, wenn er die Geister der Herden anrief und fünf Tage lang wurde das Leben des Stammes Tag und Nacht vom dumpfen Pochen der Stammestrommel begleitet, mit der Marik den Schamanen bei der Anrufung der Herdengeister unterstützte.
Wento, der andere Helfer Singans kümmerte sich in diesen fünf Tagen um die Verletzungen Distals und brachte den Jungen wieder so weit auf die Beine, dass er wenigstens ansprechbar war. Nargo, Singan und der Rat des Stammes saßen am Abend des fünften Tages an Distals Schlafplatz und Nargo begann den Jungen zu befragen.
Erstaunt erfuhren sie, dass Distal selbst jetzt noch davon überzeugt war, dass er nichts Falsches getan hatte. Weiße Felle waren es allemal wert, die Geister ein wenig zu verärgern und es war nicht sicher, ob und was die Geister – wenn es sie denn gab – überhaupt unternehmen konnten, um den begangenen Frevel zu rächen. Distal grinste boshaft mit seinem zerschlagenen Gesicht, als er verlangte, dass man die Hirsche aus ihren Decken schlug und die Felle den Frauen zum Gerben gab. Er verlangte, dass man die Felle dann sofort mit einem Boten zum Handelsposten schickte und er verlangte, endlich wieder zu seinen Eltern und seiner Heimat zurückkehren zu dürfen. Er schloss mit den Worten:
„Bleibt mir vom Leib mit euren Märchen über die Rache der Herden. Damit könnt ihr eure eigenen Bälger erschrecken, nicht mich, der ich ein Zeganit bin. Ein Dummkopf wie Mungo mag euch eure Schreckensmärchen abnehmen, ich nicht. Gebt mir meine Felle und meine Waffen und ein paar Jäger als Geleit und sobald ich wieder aus eigener Kraft stehen und gehen kann, werde ich zu meinen Eltern heimkehren. Und auf Marik passt mir schön auf, ich will nicht, dass ihm etwas zustößt, denn eines Tages werde ich soweit sein, dann werde ich kommen und mir Marik selbst vornehmen. Er wird leiden. Das schwöre ich.“
Singan schüttelte über so viel hochnäsige Dummheit und Ignoranz nur den Kopf. Er verließ die Höhle und ging, um das Stammesgericht vorzubereiten.
Das Gericht kam am siebten Tag zusammen und hörte sich die Geschichte von allen Beteiligten an. Auch Distal wurde noch einmal gehört und man staunte über seine bodenlose Arroganz, denn ein solches Verhalten hatte niemand im Stamm der Moak jemals erlebt.
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