Eva Pflüger
Roman
epubli
Der Coach
Eva Pflüger
Published by: epubli GmbH, Berlin
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Copyright © 2012 Eva Pflüger
Coverfoto: Copyright © istockfoto, helenecanada
ISBN 978-3-8442-4144-0
Berlin-Kreuzberg, Sommer 1978
Im Licht einer Fotolampe leuchten die Blumen auf dem Sommerkleid und die tizianroten Haare um die Wette. Fasziniert von den Farben vor dem weißen Leder des Barocksessels, der in den schäbigen Raum ebenso wenig zu gehören scheint wie das Mädchen, bleibt er im Türrahmen stehen.
Sie löst den Kopf von der Rückenlehne des monströsen Möbels. Ihre Augen schicken ihm eine Einladung. Die Locken erinnern ihn an eine Darstellung der Venus auf einem Ausstellungsplakat, das seine Eltern als Geschenk von einer ihrer zahllosen Bildungsreisen mitgebracht hatten, was wie er fand ein bemerkenswerter Vorgang gewesen war. Für gewöhnlich verschenkten seine Eltern nur nützliche Dinge. Was sie veranlasst hatte, dieses Motiv, die Glorifizierung der erotischen Liebe, für ihn zu wählen, war ihm ein völliges Rätsel. Das Poster hatte ihm gefallen und er platzierte es in seiner Studentenbude zwischen Marx und Mao.
Die rothaarige Schönheit passt ganz und gar nicht in seine Pläne. Die Party ist ihm gleichgültig, die Gastgeber kennt er kaum. Er hofft, hier im 3.Stock eines Altbaus in Berlin-Kreuzberg einen seiner wenigen Freunde zu treffen, von dem er sich verabschieden will. Am nächsten Morgen wird er Berlin verlassen, die Stadt, in der er geboren ist. Er ist ein unglückliches Kind gewesen und ein schlechter Schüler. Auf sein Einserexamen ist er stolz; nun, am Ende seiner Studienzeit, verspürt er nicht den geringsten Ehrgeiz sich übergangslos den Zwängen eines konventionellen bürgerlichen Lebens auszusetzen. Griechenland ist seit einer Reise in der 10. Klasse für ihn der Inbegriff von Freiheit. Dorthin will er zurückkehren. Dann wird er weiter sehen, sich treiben lassen.
Er reißt sich los von dem verheißungsvollen Lächeln, den neugierigen Augen, die ihn vermessen haben: die hochgewachsene Gestalt, dunkelbraune schulterlange Haare, warme Teddyaugen, die dem fast ständig präsenten ironischen Lächeln die Spitze nehmen. Ohne Eile bewegt er sich durch das Chaos, eingehüllt in süßliche Shitwolken. Vorbei an einer Ansammlung von Matratzen ohne Bezüge, Schlafsäcken und Kissen, die sich vor den Wänden des Zimmers aneinander reihen. Vorbei an Jaffakisten, auf denen Räucherstäbchen langsam ihrem Ende entgegen glühen und tropfende Kerzen den Raum in Dämmerlicht tauchen. Ein paar Joints, ein paar Bier, den Freund finden, mit dem er hier verabredet ist, das ist sein Programm für die Nacht. Rote Haare, lange nackte Beine und ein einladender Blick passen da nicht rein. Heute nicht. Der Versuch, sich durch das Gedränge einen Weg in den nächsten überfüllten Raum zu bahnen, lässt ihn an einen seiner wiederkehrenden Albträume denken, in denen er, mit Armen und Beinen rudernd, verzweifelt versucht aus einem gigantischen Pudding zu entkommen.
Die Partygäste scheinen mit offenen Augen zu träumen. Sie lächeln, wirken miteinander verbunden und zugleich seltsam bezugslos, jeder in seinem eigenen Nirwana schwebend. Was sie reden ist für niemanden außer für sie selbst hörbar. Die Klänge von Led Zeppelin sind der Stoff, der sie zusammen hält. Auf seinem Weg zum nächsten Raum kickt er ein paar leere Flaschen zur Seite. Sein Fuß verfängt sich in einem Kabel, das dorthin führt wo es heller ist, zu einem Telefonapparat in dem endlos langen Flur. Der augenblickliche Benutzer hat den Hörer tief in seiner Mähne versenkt und scheint bei dem Versuch gegen die Klangtapete anzuschreien ebenso fest mit der Wand verschraubt zu sein wie der schwarze Apparat.
Er blickt sich um, sucht den Weg zur Küche und dem Biervorrat, schiebt sich weiter, entlang der blutroten Flurwände mit ihrer bunten Mischung aus Portraits angesagter Revolutionäre, Rockikonen und Anti-AKW-Postern, denen er keinen Blick gönnt. Überall die gleichen Bilder. In seinem Rücken ein Kinderlachen. Zum zweiten Mal an diesem Abend bleibt er irritiert stehen, dreht sich um. Die Rothaarige. Sie hält ihm eine perfekt gedrehte Tüte hin, die andere Hand streicht eine Korkenzieherlocke aus dem Gesicht, in der einzigen Absicht, sie wieder dorthin springen zu lassen. Das funktioniert. Ihre Augen laden ihn ein, sich der widerspenstigen Locke anzunehmen. Das funktioniert nicht. Er nimmt den Joint und steuert mit einem herablassenden Lächeln die Küche an, vorbei an der geöffneten Badezimmertür. Sein Blick fällt auf die Wanne, in der zwei Typen sitzen und trommeln. Das unvermeidliche Zappa-Poster hängt in dieser WG in der Küche, zwischen zwei Blechregalen mit dem von Müttern, Tanten, Großmüttern gespendeten Geschirr. Auf der Höhe von Zappas Hintern stehen vier Nutellagläser mit Aufklebern: Nico Susa Walter Hannes. Irgendjemand hat sich die Mühe gemacht, Zappas Revoluzzermiene durch das asketische Intellektuellengesicht des amtierenden Stellvertreters Christi auf Erden, Papst Paul VI, zu ersetzen. Der Rest ist Original Zappa auf dem Klo. Gegenüber der Esstisch, auf den ein Partygast sein müdes Haupt neben einen halb aufgegessenen Schokoladenkuchen gebettet hat. An der Wand darüber Bob Dylans Warnung in orange leuchtenden Pinselstrichen: THEY’LL STONE YA WHEN YOU’RE AT THE BREAKFAST TABLE! Neben der Tür zum Balkon endlich ein Stapel Bierkästen. Er öffnet eine Flasche, wirft einen Blick auf den Balkon. Ein Skelett mit Rokokoperücke und einem Dildo zwischen den gebleckten Zähnen bewacht dort den Sperrmüll.
Während er das Stillleben betrachtet, leert er seine Flasche. Er nimmt sich noch ein Bier, will die Küche verlassen, um weiter nach seinem Freund zu suchen. Im Türrahmen wartet die Rote und spielt mit ihren Locken. Wieder dieses verheißungsvolle Lächeln. An einem anderen Tag würde er das Angebot annehmen. Aber er hat noch nicht einmal seine Tasche gepackt. Sie bewegt sich nicht von der Stelle, als er versucht sie nicht zu berühren. Es wird eng. Den Duft ihrer Haut, die Hitze und ihr Lachen nimmt er mit.
Zurück in dem Flurschlauch, in dem eine Katze beschnuppert, was sie gerade ausgekotzt hat, ziehen psychedelische Klänge ihn in einen Raum gegenüber der Küche. In-A-Gadda-Da-Vida. Der 68er Song von Iron Butterfly ist sein Lieblingsstück, sein LSD-Ersatz. Eine knallrote Bogenlampe beleuchtet die abgewohnte Sauberkeit und Ordnung dieses Zimmers, in das die Gitarren- und Bass-Riffs ihn locken. Im grellbunten aufblasbaren Sessel sitzt ein Replikat von Farrah Facett. Davor kniet - endlich - der Freund in einer seiner selbstgeschneiderten Pluderhosen und begleitet mit seinen Händen das einsetzende Schlagzeugsolo auf den nackten Schenkeln der Schönen. Der Abschied vom Freund fällt kurz aus. Er überreicht ihm einen Schlüssel zu seinem WG-Zimmer und erinnert mit einem Blick auf das Farrah-Double daran, dass er den Raum heute selbst noch bewohnt.
Es ist zwei Uhr in der Nacht, als er das Fest verlässt. Im Flur geht er wortlos an der rothaarigen Venus vorbei. Die Tür fällt hinter ihm zu. Er ist erleichtert, das Spiel nicht mitgespielt zu haben. Auf der Straße umfängt ihn die milchige Sommerluft. Zuhause wird er noch seine persönlichen Sachen verpacken, bevor der Freund das Zimmer während der nächsten Monate übernimmt. Die Werke von Marx und Engels gilt es unbedingt vor unerwünschten Zugriffen zu bewahren. Den Band 23 „Das Kapital“ besitzt er zweimal, der erste Band zeugt mit den zerfledderten, von unzähligen Notizen bedeckten Seiten von seiner jahrelangen exzessiven Beschäftigung mit den Denkwelten der Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft. Kopfschüttelnd erinnert er sich daran, dass er allen Ernstes einen der Bände in seine Reisetasche stecken wollte. Es ist in der Tat Zeit endlich alles hinter sich zu lassen, denkt er. Die Examenszeit war wie Einzelhaft mit gelegentlichem Freigang für Bibliotheks- und Institutsbesuche. Das Leben und die Ereignisse der letzten Monate sind an ihm vorbeigerauscht: Der erste Deutsche fliegt ins All; Breschnew droht mit der Neutronenbombe; in einem Großversuch wird die Pille für den Mann getestet; die Drogenkarriere der Christiane F. erscheint im Stern als Fortsetzungsserie.
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