Außer ein paar Schlägereien, vor allem während der Volksfeste in der Luitpoldanlage, ein paar Drogendelikten, Prostitution auf einigen Autobahnparkplätzen, war Freising ein unbescholtenes Blatt, ganz im Gegensatz zu München oder Augsburg. In Augsburg war vor wenigen Wochen ein Polizist bei einer wilden Verfolgungsjagd getötet worden. Kreithmeier schüttelte es. Bis heute keine Spur von den Tätern. Da war Freising kriminelle Diaspora. Und das war gut so. Seine Arbeit war mitunter langweilig, aber nicht gefährlich. Langeweile gegen Gefahr. Für ihn gewann immer die Langeweile. Und heute ein Toter. Und dann alles so geheimnisvoll. Feuerwehr, noch keine Polizei vor Ort. Seltsam. Seltsam.
Als er von der Tuchinger in die Feichtmayr fuhr, sah er schon das rote Feuerwehrauto mitten auf der Straße stehen. Seine ausziehbare Leiter ragte wie eine filigrane Brücke über die Straße und endete auf dem Dach einer der Villen, die hier in diesem Teil Freisings häufiger anzutreffen waren. Um den Wagen standen einige Leute herum: Feuerwehrmänner in ihrer Uniform und Zivilisten, wahrscheinlich Anwohner, dachte er, aber kein Polizist, niemand in weißem Overall, und auch seine hübsche Kollegin Melanie Schütz konnte er noch nicht entdecken. Er parkte den Wagen etwas abseits, zündete sich eine Zigarette an und stieg aus. Gizmo wedelte mit dem Schwanz.
Er wollte mit, war neugierig, wo es denn hinging, doch Kreithmeier streichelte ihn am Genick und sagte nur: »Gizmo, du bleibst da, das ist nichts für dich, zu viele Menschen, und ich kann mich nicht um dich kümmern. Außerdem knurrst und bellst du nur wieder alle an. Das mag nicht jeder. Bleib schön hier. Herrchen ist bald wieder da. Mein Klient ist ja schon tot. Sei schön brav!«
Ein letztes Mal streichelte er seinen Hund, gab ihm ein weiteres Leckerli und Gizmo gab sich kauend in sein Schicksal.
Gemächlich schlenderte Kreithmeier auf die Gruppe von Menschen vor dem Haus zu. Der Feuerwehrwagen wirkte deplatziert in dieser Gegend. Ein rotes Monstrum mitten zwischen hübschen Stadtvillen und entlaubten Bäumen. Die Feuerwehr rückte normalerweise bei Feuer, Hochwasser und Katzen auf Bäumen aus. Warum war sie jetzt hier? Wer hatte die Leiche entdeckt und wer hatte die Feuerwehr alarmiert? Es würde sich schon alles aufklären.
»Wer ist hier denn der Chef?«, fragte Kreithmeier einen der Männer in Uniform.
»Und wer will das wissen?«
»Alois Kreithmeier, Kriminalpolizeiinspektion Erding, Dienststelle Freising.« Er hielt dem Behelmten seinen Dienstausweis vor die Nase.
»Also wer ist hier der Chef?«, wiederholte er seine Frage mit etwas mehr Nachdruck.
»Zugführer Adldinger, Joseph Adldinger. Dort steht er, neben der Leiter.«
»Aha! Geht doch.« Kreithmeier steckte seinen Ausweis wieder in die Tasche und schritt auf den vermeintlichen Zugführer zu.
»Sie sind der Mann von der Kripo?«, fragte dieser ohne sich vorzustellen.
»Ja, und Sie sind der Einsatzleiter hier?«
»Ja, Joseph Adldinger, Feuerwache 1.«
»Schön. Kreithmeier, Alois, Kriminalpolizeiinspektion Erding, Dienststelle Freising«, wiederholte er sein Verslein.
»Und wo ist jetzt die Leiche?«, fragte er kühl.
»In der Dachrinne!« Der Zugführer drehte sich um die eigene Achse und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf das Dach der Villa, auf dem die Leiter angelegt war.
»Dort oben? Wo dort?«
»In der Dachrinne.«
»In der Dachrinne?«
»Ja. Wenn Sie die sehen wollen, müssen Sie die Leiter hochklettern. Wir haben nichts angefasst. Es ist alles so, wie es aufgefunden wurde.«
Alois Kreithmeier blickte ungläubig an der Aluminiumleiter in die Höhe auf den Dachfirst. Ein Toter in einer Dachrinne. War das überhaupt möglich? Würde die Dachrinne, falls ein Mensch dort überhaupt hinein passte, unter dem Gewicht nicht aus der Verankerung reißen und mitsamt dem Toten zu Boden krachen?
Der Zugführer kam mit einem Feuerwehrhelm auf ihn zu, drückte ihm den Helm in die Hand und sagte: »Safety First. Wenn Sie ihn bitte aufsetzen wollen, Herr Kommissar. Dann können wir.«
Der Kommissar blickte verdutzt auf den Helm in seiner Hand, dann wieder auf sein Gegenüber.
»Was soll ich damit und was können wir?«
»Den Helm natürlich aufsetzen und dann klettern wir beide die Leiter aufs Dach hinauf. Dort oben ist der Tote.«
Alois Kreithmeier drehte den Helm in seiner Hand. Musste das sein? Sollte er nicht lieber auf die Schütz warten? Die war jünger und scheute sich vor nichts. Sollte doch lieber sie dort hinauf klettern.
Der Feuerwehrmann nahm ihm den Helm wieder aus der Hand. Ohne zu fragen setzte er ihn ihm auf den Kopf, verschloss den Lederriemen und schob den Mann Richtung Leiter.
»Da geht es hinauf. Gehen Sie voran, Herr Hauptkommissar, ich folge Ihnen.«
Widerwillig kletterte Kreithmeier die Stufen zum Feuerwehrwagen hinauf um von einer Plattform aus, die ersten Sprossen der Leiter zu erklimmen. Sein Blick schweifte Hilfe suchend über die Anwesenden, in der Hoffnung doch noch jemanden zu entdecken, der ihn aus der prekären Lage befreien konnte. Doch kein Polizist, keine Spusi, und schon gar keine Melanie Schütz konnte er entdecken, nur unbekannte Gesichter, die ihm neugierig nachschauten, wie er die Sprossen immer höher stieg. Die Menschen nickten ihm aufmunternd zu. Und die ersten Smartphone wurden gezückt, um Bilder oder Videoaufnahmen zu machen.
Das Dach des Hauses war nicht mehr als zehn Meter über dem Boden, doch die lange Drehleiter, auf der er mühsam Zentimeter um Zentimeter in die Höhe stieg, sah aus seiner Perspektive fast so aus, als ob sie direkt in den Himmel führte. Er musste sich zusammenreißen. Alle starrten jetzt auf ihn und den Feuerwehrmann hinter sich, der ihn Gott sei Dank nicht drängte, sondern ganz einfach nur bedächtig und umsichtig hinter ihm her kletterte. Die Leiter berührte nicht das Dach, sondern führte fast parallel an der steilen Neigung des Daches entlang. Nach vielen unzähligen Sprossen hielt sich Kreithmeier an der Leiter fest und blickte auf die rot lackierten Ziegel des Hauses. Unterhalb davon konnte er die Dachrinne entdecken. Aber keine Leiche, keinen Toten. Mit beiden Händen sich am Geländer fest haltend, drehte er sich um und fragte den Zugführer hinter sich:
»Wo ist die Leiche?«
»Dort in der Dachrinne. Warten Sie, ich bewege die Leiter näher heran, dann können Sie besser sehen.«
Bevor Kreithmeier noch etwas erwidern konnte, drückte der Feuerwehrmann auf eine Fernbedienung in seiner Hand und die Leiter drehte sich näher ans Haus und an die Dachrinne. Kreithmeier hielt sich krampfhaft mit beiden Händen fest, als die Leiter herum schwenkte und sich zusätzlich noch ein bisschen tiefer senkte. Das war nicht seine Welt. Er blickte nach unten und sah unter sich die weit aufgesperrten Mäuler der Schaulustigen, die nur darauf warteten, dass er sich hier oben blamierte oder seinen Halt verlor und in die Tiefe stürzte.
»Wo?«, fragte er zitternd ein zweites Mal.
»Hier genau unter uns. Dort liegt der Tote.«
Alois Kreithmeier konzentrierte sich. Er vergewisserte sich, dass er mit beiden Füße fest auf einer der Sprossen stand, seine beiden Hände das Geländer fest umklammerten, und erst dann beugte er sich hinunter, um den Toten besser erkennen zu können.
Ihm stockte der Atem, als er erkannte, um was für einen Toten es tatsächlich ging. Hätte er jetzt eine Hand frei gehabt, hätte er dem Feuerwehrmann gerne eine Ohrfeige gegeben, als Strafe, ihn für so Etwas vom sicheren Boden über eine wackelige ewig lange Leiter in die Höhe zu jagen. In der Dachrinne lag ein Toter, das war richtig. Doch in der Dachrinne lag kein Mensch, sondern ein kleiner toter Hund, ein toter Dackel. Und deswegen hatte man ihn, Kriminalhauptkommissar Alois Kreithmeier, von seinem morgendlichen Spaziergang geholt und mit einem muffigen Feuerwehrhelm eine turmhohe Leiter hochgejagt. Doch leider konnte er nicht. Eine Ohrfeige austeilen. Jedes seiner Gliedmaßen war fest mit der Leiter verbunden. So musste er sich seinen Gefühlsausbruch aufheben, bis er wieder unten war. Aber dann.
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