Doch der „Markt“ sah das anders. Der „Markt“ – das sind die Hauptakteure auf den Finanzmärkten: Banken, Versicherungen, Hedgefonds, Reiche und Superreiche. Sie nämlich entscheiden als Käufer von Staatsanleihen, ob die Ratingagenturen oder die EZB richtig liegen. Und wie lautete ihr Urteil? Sie glaubten den Ratingagenturen und verlangten Renditeaufschläge für griechische, irische, aber auch italienische und spanische Staatsanleihen. Das bedeutete: Sie stuften die Wahrscheinlichkeit einer Zahlungsunfähigkeit dieser Länder höher ein. Und das sah dann so aus: Noch im Spätsommer 2008 waren die sogenannten Spreads nicht höher als 1 Prozent. Anfang 2009 mußte Griechenland jedoch gut 3 Prozentpunkte mehr Zinsen als Deutschland zahlen. Hintergrund: Die gesamte Staatsverschuldung Griechenlands summierte sich 2007 auf knapp 95 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).
Diese Zahlen lösten im Bundesfinanzministerium Alarm aus. Offensichtlich wurden Berechnungen zu der Frage angestellt, ob die Griechen ihre Schulden aus eigener Kraft begleichen können. Anders gesagt: Die Schuldentragfähigkeit wurde untersucht. Das Ergebnis lautete: Nein, das schaffen sie nicht (mehr zur Schuldentragfähigkeit siehe unten).
Daraufhin forderte Finanzminister Peer Steinbrück überraschend, die Europäische Union in ihrer Gesamtheit müsse helfen, wenn ein Euroland in gravierende Zahlungsschwierigkeiten gerate. So verständlich diese Forderung auch sein mag – sie wäre ein Verstoß gegen Artikel 103 des EG-Vertrages – die sogenannte „No-Bail-out“-Klausel. Sie besagt, dass in der Währungsunion kein Staat für die Schulden anderer Staaten haften oder aufkommen muss. Steinbrück hatte seine Position offenbar nicht abgesprochen, denn wenige Stunden später schickte die Kanzlerin ihren Sprecher vor und ließ erklären: Die Äußerungen von Steinbrück würden auf keinen Fall bedeuten, daß Deutschland den EU-Vertrag ändern wolle.
Für den früheren Chefvolkswirt der EZB, Otmar Issing, stand damals fest: Es wäre eine Katastrophe, wenn die „No-Bail-out“-Klausel aufgeweicht würde. „Das legt die Axt an den stabilitätspolitischen Rahmen der Währungsunion.“ Dass jeder Staat für seine eigenen Schulden und Defizite hafte, sei entscheidend für die finanzpolitische Disziplin. „Ohne das gebe es kein Halten mehr.“
Deutliche Worte von einem Insider. Doch in Brüssel war man sich nicht einig. Denn EU-Währungskommissar Joaquín Almunia vertrat wie Steinbrück den Standpunkt, daß man für EU- Länder, die in Zahlungsschwierigkeiten geraten, eine „europäische Lösung“ finden müsse. Der Gang zum Internationalen Währungsfonds (IWF) – also deren Einbeziehung – sei unnötig. Die EU-Elite ignorierte die Einschätzungen von Almunia und Steinbrück. Schwer zu sagen, welchem Regierungschef und EU-Kommissar klar war, daß die Griechen es aus eigener Kraft nicht schaffen können, und wem nicht. Damals war die Mehrheit noch davon überzeugt, daß Griechenland mit einem Anteil von 2,5 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP) der EU keine Gefahr darstelle. Gerate dieses Land in eine Krise oder gar eine Pleite, würde das den Elefanten EU nicht im geringsten belasten. Das erwies sich als fatale Fehleinschätzung, denn schon sehr bald wurde aus der Maus ein Elefant. Wie war das möglich?
„Wir rechnen mit weiteren Turbulenzen“
In Griechenland regierte seit Anfang Oktober 2009 die Panhellenische Sozialistischen Bewegung (PASOK). Sie geriet sofort ins Visier der Eurogruppe. Auf ihrem Treffen am 20. Oktober war die Verschuldung Griechenlands das zentrale Thema. Wegen mangelnder Zuverlässigkeit seiner Statistik wurde Athen scharf gerügt. „Das Spiel ist aus – wir brauchen seriöse Statistiken“, forderte Eurogruppen-Chef Jean-Claude Juncker. Daß die Gespräche mit dem neuen griechischen Finanzminister Giorgos Papakonstantinou alles andere als harmonisch verliefen, konnte man daraus entnehmen, daß Eurogruppenmitglieder „gravierende, ernste Probleme“ in Athen erkannt hatten.
Was waren das für „gravierende“ Probleme? Aus den nun folgenden Zahlen können Sie entnehmen, wie tief Griechenland bereits in eine Verschuldungskrise hineingeschlittert war.
Tabelle 2 Indikatoren zur Schuldenkrise in Griechenland 2005–2012 |
Jahr |
Haushaltssaldo |
Schuldenquote |
Private Sparquote |
Zinssatz |
Zinslastquote explizit |
implizit |
2005 |
-5,3 |
114,0 |
-8,0 |
3,6 |
4,4 |
4,1 |
2010 |
-8,3 |
129,2 |
-7,3 |
9,1 |
5,3 |
15,5 |
2012 |
-6,5 |
142,2 |
- |
12,0 |
5,6 |
17,1 |
Quelle: Kiel Institut, Working Paper, Nr. 1690, März 2011
Betrachtet man die Zahlen aus Tabelle 1 und 2, so ergibt sich ein eindeutiger Schluß: Es mußte etwas passieren, denn die Griechen steuerten eindeutig auf den Abgrund zu. Daß Staaten auch zuvor schon an den Rand einer Zahlungsunfähigkeit gerieten oder auch Pleite gingen, war nicht neu. In der Regel meldeten sie Insolvenz an und schuldeten um. Doch Griechenland war Mitglied einer Währungsunion. Damit lag der Fall völlig anders als in anderen hochverschuldeten Ländern wie Argentinien, Japan oder den USA. Diese Länder gehörten keiner Währungsunion an. Darum konnten sie ihre Währung auch beliebig auf- und abwerten, um dadurch Exportwaren günstiger anbieten oder Importe günstiger einführen zu können. In der Eurozone kann kein Land am Eurokurs „drehen“. Hier bestimmt die EZB allein den Kurs des Euro.
Es war also ernst. Doch die EU-Elite verfiel in Lethargie – und die wurde sofort bestraft. Ende November 2009 waren schon viele Investoren nervös, weil nicht klar war, wie sich das fiskalpolitisch angeschlagene Griechenland angesichts seiner schwachen Konjunktur entwickeln würde. Und so kam es, daß die Rendite für zehnjährige Staatspapiere Griechenlands sich mit 5,12 Prozent – gegenüber 3,16 Prozent für Bundesanleihen – jenem Punkt näherte, ab dem die Begleichung der Schulden kaum noch möglich ist – der liegt nämlich bei 6 Prozent. Am 9. Dezember 2009 hatte die Ratingagentur Fitch ihr Urteil bereits gefällt – sie stufte die Kreditwürdigkeit Griechenlands auf „BBB+“ von „A –“ herab. Zuvor hatte die Ratingagentur S&P davor gewarnt, dass die Bonitätsnote „A –“ akut gefährdet sei.
Welche Bedeutung hat diese Einschätzung? Das „A –“ Rating war die Mindestanforderung, damit ein Land seine Anleihen als Sicherheit bei der EZB hinterlegen konnte. Solange es diese Möglichkeit gab, war die Refinanzierung gewährleistet. Doch wegen der Finanzkrise ging die EZB noch einen Schritt weiter und senkte diese Grenze auf BBB– herab – jedoch nur bis Ende 2010. Danach würde das A-Rating wieder gelten. Kurzum: mit BBB+ war Griechenland nur eine Stufe von jenem Punkt entfernt, an dem die Refinanzierung nicht mehr möglich war. Dann wäre die Pleite unvermeidbar gewesen.
Die griechische Regierung war sich dieser Gefahr bewußt. Ministerpräsident Giorgos Papandreou versicherte, Athen könne mit der schlimmen Finanzlage fertig werden. „Wir sind entschlossen zu handeln. Wir werden uns mit den Problemen konfrontieren und die Glaubwürdigkeit des Landes wiederherstellen.“ Anderenfalls sei „sogar die Souveränität des Landes Gefahren ausgesetzt.“ Er werde sich in den kommenden Tagen mit allen Spitzenpolitikern des Landes treffen, um Maßnahmen für die Genesung der Wirtschaft und für die Bekämpfung der Vetternwirtschaft, der Korruption und der Steuerhinterziehung zu suchen.
Aus dem Munde des griechischen Finanzministers Giorgos Papakonstantinou klang es freilich ganz anders. Der Panik nahe gab er Sätze wie diese von sich: „Es ist wahr, die Wirtschaft des Landes geht durch schwierige Zeiten.“ Die Berichte der Ratingagenturen würden die Lage erschweren. „Wir rechnen mit weiteren Turbulenzen. Ich versichere aber: Die Regierung wird alles tun, um die verlorengegangene Glaubwürdigkeit (der Wirtschaft) des Landes wiederzugewinnen.“
Читать дальше