»Wir können rein theoretisch auf AKZ-Prioritätsgeschwindigkeit drosseln. Sie werden uns nicht einholen. Bei dieser Geschwindigkeit erreichen sie den Nexus in etwa zwei bis drei Erdwochen, sollten sie Kurs darauf nehmen.« Der Offizier blickte Morgaine an.
Sie legte die Hand an ihr Kinn und überlegte kurz. »Bestätigt. AKZ-Prioritätsgeschwindigkeit«, sagte sie schließlich und wandte sich leise an Khaust.
»Khaust, ich bitte sie, kümmern sie sich um ... die Besatzung ... ich ...«
»Ich verstehe, Captain.« Khaust ließ ein schwaches Lächeln unter seinem Schnauzer erkennen. »Gehen sie. Es ist in Ordnung. Ich kümmere mich um alles. Nehmen sie sich eine Auszeit.«
»Ich danke ihnen ... Ich danke ihnen, Khaust.« Morgaine ging langsam zu ihrem Büro, durch den Raum hindurch und in ihre Privatgemächer. Mit jedem Schritt spürte sie, wie sehr die Last des eben Erlebtem tatsächlich auf ihr ruhte. Doch diese Last hatte sie allein zu tragen. Diese Last konnte ihr niemand abnehmen, da nur sie der Captain der Stronghold war.
Langsam ließ sie sich in ihren Sessel sinken. Das entsetzliche zehrende Gefühl in ihrer Brust wurde wieder stärker und die Stimmen und Schreie der sterbenden Xeter- und Scarletpiloten schienen in ihrem Ohr zu hallen wie die Aufzeichnung eines Audiosignals. Wie ein schwarzer Schatten kroch das unangenehme Gefühl der Schuld, der Angst und des Entsetzens in ihr hoch und schien sie in ihrem Sessel zu verschlucken.
Morgaine hatte keinen Schlaf gefunden, bis sie die Koordinaten erreicht hatten, an denen sich die Epos befand. Die Epos hatte ihren aktuellen Zirkulationspfad verfolgt und war weiter im Arym Var-System vorgedrungen.
Sie war am Aaron-Schwarm vorbei geflogen und befand sich nun etwa vier oder fünf Tage von Infidelis’ Orbit entfernt, aus Gründen, die Morgaine nicht weiter bekannt waren und sie auch nicht interessierten.
Was sie vielmehr interessierte, oder vielmehr, wovor ihr graute, war ein erneutes Treffen mit Ravenberg. Noch dazu nach alldem was passiert war. Würde er sie degradieren, weil sie nahezu die komplette Streitmacht der Stronghold in den Tod geschickt hatte? Oder würde er sie sogar ...
»Captain«, unterbrach sie Khausts Stimme aus dem Kom. »Wir sind in Interstellar-Reichweite zur Epos. Soeben ist eine Kom-Verbindung eingegangen.«
»Ich komme.« Es ist so weit, dachte Morgaine, nahm ihr vorbereitetes Script-Pad und verließ ihre Privatgemächer.
Auf der Brücke war bereits das Bild desselben, eigenartigen Mannes auf dem Monitor zu sehen, der ein Headset aufhatte und eine seltsame Vis-Vorrichtung vor seinem linken Auge trug.
Er sprach in seiner gewohnt monotonen Stimme. »Captain Morgaine Hera von der Stronghold, ein Perser-Shuttle ist bereits unterwegs zu ihrem Schiff, um sie abzuholen und zum Führer des Andragon-Kanton-Zusammenschlusses, Maurizius Ravenberg, zu bringen.« Die Kom-Verbindung wurde beendet, bevor Morgaine überhaupt den Mund aufmachen konnte, um zu antworten.
Mit steinerner Miene ignorierte sie Khausts Blick von der Seite und verließ die Brücke.
Morgaine war fast überrascht über sich selbst, als sie das Perser-Shuttle in Hangarbucht 14 auf der Epos verließ und zusammen mit zwei Cyborgs zum Röhrentransporter geführt wurde. Diesmal begrüßte sie keine pferdegesichtige Lieutenant Brooge mehr.
Morgaine war überrascht, weil sie fast keine Angst hatte. Es war ihr gleichgültig, was Ravenberg mit ihr anstellen würde oder was er ihr sagen würde. Es war ihr egal, was sein Mutantenscheusal für Gedanken aus ihr heraussaugen würde.
Seit der Begegnung mit der fremden Spezies war Morgaine ein anderer Mensch.
Sie ignorierte die Umgebung, die durch die gelben Funken hinter der Transportkapsel an ihr vorbeiraste und stand schließlich vor der rothaarigen Mutantenfrau, die vor Ravenbergs Zimmer hinter einem Tisch saß und ihr ein seltsames und zugleich widerliches Lächeln zuwarf. Morgaine hatte gute Lust, ihr ohne tiefere Gründe die Faust zwischen die Zähne oder auf eins ihrer leuchtenden blauen Augen zu jagen. Sie kontrollierte dann jedoch ihre Aggressionen und trat durch die geöffnete Tür in Ravenbergs Zimmer.
Morgaine ließ ihr Script-Pad fallen und ging fast zu Boden, als die abscheuliche Telepathiemutantin alles und tatsächlich alles was passiert war –alle Gedanken, alle Worte, alle Handlungen – aus ihrem Kopf heraussaugte wie eine Spinne, die ihr Opfer aussaugt.
Ravenberg saß ruhig hinter seinem erhöhten Pult und betrachtete die Situation gelassen. Er faltete die Hände zusammen und verzog seine markanten Züge zu einem unlesbaren Gesichtsausdruck. »Captain Morgaine Hera.« Er klang wie bei ihrem ersten Treffen.
Als Morgaine sich wie von einem betäubenden Schlag auf den Kopf erholt hatte, zögerte sie nicht länger, ihre sämtlichen Sinne mit Hass und Verachtung gegenüber der Mutantin, Ravenberg und sogar dem gesamten AKZ zu füllen und sie gedanklich in den Raum zu schleudern.
Ravenberg machte ein Geräusch wie ‚ts, ts, ts‘ und schüttelte sachte und amüsiert den Kopf.
»Captain Morgaine Hera«, wiederholte er, nun leicht lächelnd. »Wer wird denn gleich ...«
Morgaine war sich sicher, dass er alles wusste. Er konnte ihre Wut an seinem Bildschirm ablesen. Er wusste, dass der Großteil der Streitmacht der Stronghold zerstört war. Er wusste einfach alles.
Ein blubberndes Geräusch drang von dem Behälter der Mutantin zu Morgaine. Sie verzichtete darauf, ihren Blick von Ravenberg abzuwenden.
»Also sind die Wahrsagungen tatsächlich eingetroffen«, sagte er schließlich nachdenklich, aber ohne seinen kalten Ton zu verlieren. »Die Neuigkeiten sind in der Tat beunruhigend. Die Talloniden beeinträchtigen den Fortschritt der Andragon-Kantone.«
Wahrsagungen? Morgaine verstand kein Wort.
»Lassen sie es mich erklären, Captain Morgaine Hera.« Wenn Ravenberg ihren Namen aussprach, hatte Morgaine das Gefühl, Messerstiche versetzt zu bekommen. »Über viele Jahre habe ich gelernt, auf die Hinweise meiner teuren Freundin zu hören.« Er wies verhalten mit der rechten Hand auf die Mutantin. »Doch vor wenigen Wochen zeigte sie mir einige beunruhigende ... Bilder. Sie zeigte mir, dass die Andragon-Kantone in absehbarer Zeit auf eine harte Probe gestellt werden würden. Meine Aufgabe wird sein, sie in dieser schweren Zeit zu leiten.« Er senkte den Blick wie ein Priester, der die Absolution erteilt, lächelte und fuhr fort. »Die Talloniden. Eine dunkle Präsenz im All. Sie werden schon in wenigen Erdwochen kommen.«
Er ist verrückt, dachte Morgaine. Hätte sie gesprochen, so hätte sie sich nun auf ihre Zunge gebissen. Doch bei Gedanken war dies nicht möglich.
»Sie halten mich für verrückt«, stellte Ravenberg monoton in den Raum, fuhr dann jedoch unbeeindruckt fort.
Morgaine konnte ihn nicht einschätzen.
»Nun, sie sollten sich darüber im Klaren sein, dass die Zukunft der Andragon-Kantone davon abhängt, wie die Obersten des Zusammenschlusses agieren, Morgaine Hera.«
Morgaine ergriff zum ersten Mal das Wort. Sie ignorierte die Anspannung, die Ravenberg konstant durch seine bloße Präsenz verursachte und fasste sich ein Herz. »Maurizius Ravenberg. Was hat das alles zu bedeuten? Wer sind die Talloniden und was wollen sie? Was passiert mit den Andragon-Kantonen? Ich bitte sie, mich aufzuklären.«
Sie konnte nicht feststellen, ob Ravenberg amüsiert oder kochend vor Wut über das unaufgeforderte Erheben ihrer Stimme war.
Er legte sein Kinn auf seine zusammengefalteten Handflächen und sah sie an.
»Sie zeigte mir die Dunkelheit, Morgaine. Die Talloniden sind die Dämonen, die aus der Hölle aufgefahren sind um die Menschheit auf die Probe zu stellen.«
Er ist abergläubisch, stellte Morgaine fasziniert fest.
Zum ersten Mal konnte sie etwas wie ärger auf Ravenbergs Zügen entdecken.
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