Ich musste nun doch alleine nach Gayton reisen, es ist bitter. Vater feiert seinen fünfzigsten Geburtstag und Victor kann nicht dabei sein. Mutter hatte schon den Vorschlag gemacht, dass Vater und sie nach Paris kommen, aber Vater hat Geschäftspartner in Liverpool und kann nicht an seinem Ehrentag verreisen. Morgen Abend gibt es einen Empfang im Kontor.
Eigentlich ist es nicht schön, so lange von Victor getrennt zu sein. Ich hätte gleich nach Vaters Geburtstag wieder nach Hause fahren sollen, um dann zu Mutters Geburtstag zurückzukehren, dann vielleicht zusammen mit Victor. Ich hoffe so, dass er sich in ein paar Tagen doch noch frei nehmen kann und zu uns nach Gayton kommt.
Gayton, 10. September 1893
Morgen noch Mutters Geburtstag und dann bin ich es müde hier zu sein. Victor fehlt mir so sehr, nur zwei Briefe von ihm haben es in der ganzen Zeit zu mir geschafft. Er klagt nicht, obwohl ich aus seinen Zeilen mehr herauslese. Ich habe so gehofft, dass er nach Gayton kommt, aber jetzt ist es auch egal, übermorgen haben wir uns wieder.
Paris, 12. September 1893
Gestern konnte Victor mich nicht einmal vom Bahnhof abholen. Er hatte natürlich Sonderdienst. Bestimmt wusste dieser Leverne von meiner Reise. Ich musste mir eine Droschke nehmen, ganz allein und bin in ein leeres Haus gekommen. Natürlich hat mich Jeanette begrüßt, aber ich hätte Victor so sehr gebraucht. Er ist dann aber erst spät um elf heimgekommen, dennoch war ich so glücklich, ihn wiederzusehen.
Paris, 15. September 1893
In den vergangenen Monaten, seit dieser Leverne mit dem Brief gekommen ist und Victor zur Rede gestellt hat, ist außer den Schikanen nichts weiter vorgefallen. Leverne hat das Thema nicht wieder erwähnt. Gestern wurde Victor jedoch von einem Capitaine aus der Kaserne angesprochen. Der Mann ist erst seit Kurzem in Paris und wollte von Victor wissen, zu welcher Gemeinde er gehöre, und zwar zu welcher jüdischen Gemeinde und ob Victor ihn dort einführen könne. Dann hat sich herausgestellt, dass Leverne es verbreitet hat. Dies ist natürlich allerhand, vor allem, weil es ja nicht der Wahrheit entspricht. Victor zögert noch, er weiß nicht, ob er die Sache vor Leverne ansprechen soll, um sich künftig derartige Behauptungen zu verbitten. Ich kann Victor auch keinen Rat geben. Ich denke jetzt plötzlich, er solle es sein lassen und lieber zusehen, dass er innerhalb des Stabes einem anderen Vorgesetzten untergeordnet wird. Das muss doch möglich sein.
Paris, 23. September 1893
Die Holmes Geschichten machen mir weiterhin Freude. Ich werde ja regelmäßig mit dem Strand Magazine beliefert, Mutter sei dank. Ich will hier nicht über jede einzelne Geschichte berichten, aber eine Sache sei doch erwähnt, weil ich mir Gedanken darüber gemacht habe. In der letzten Geschichte, in der es um einen griechischen Dolmetscher ging, konnte der geneigte Leser etwas mehr über die familiären Verhältnisse des geheimnisvollen Mr. Sherlock Holmes erfahren. Nachdem zumindest über seinen Freund und Chronisten Dr. Watson bekannt wurde, dass er verheiratet ist, taucht nun sogar ein Bruder von Mr. Holmes auf, ein gewisser Mycroft, Mycroft Holmes. Dr. Watson war genauso interessiert daran, wie ich und ebenso überrascht. Ich hoffe nun, dass in den nächsten Geschichten weitere Verwandte erscheinen, weil es wirklich interessant ist. Jeder möchte sich doch ein Bild von Sherlock Holmes machen, um das Rätsel dieses geheimnisvollen Mannes zu lüften.
Victor hat keine Empfehlung bekommen. Sein Zeugnis ist sehr schlecht ausgefallen. Wieder Leverne. In diesen Wochen wurden die Beurteilungen der Stabsoffiziere dem Brigadegeneral vorgelegt. Victor war für die Beförderung zum Commandant vorgesehen und er hätte sich auf diese Weise im nächsten Jahr von Leverne befreien können. Aus all dem wird jetzt nichts. Es kann nun ein oder zwei Jahre dauern, bis Victors Beförderung wieder vorgelegt wird. Es ist ein gewaltiger Schlag, sagt Victor. Er wird diesen Leverne nicht los, kann sich nicht lösen.
Gestern waren wir aus, es war herrlich. Ein Opernabend im Palais Garnier, es gab die Walküre von Richard Wagner. Diese bombastische, kräftige Musik ist wahrhaft deutsch. Die Handlung ist nicht von dieser Welt, so mystisch, mit Göttern, mit einem Wotan, einem magischen Schwert und vielem mehr. Es sind Dinge, denen wir in Paris wohl nicht begegnen werden. Das Werk gehört zum Ring der Nibelungen, wie das Programmheft informiert, und besteht eigentlich aus vier einzelnen Opern. Vielleicht haben wir die Gelegenheit auch die anderen Stücke noch zu sehen. Dazwischen möchte ich aber noch etwas leichtere Kost haben, mit sanfterer Musik.
Mitten in der Woche haben sich meine Lieben nach Paris aufgemacht, um mit mir zu feiern. Es ist ein richtiges Familienfest geworden. Ich freue mich so, dass Mutter und Vater hier sind. Sie werden die ganze Woche bleiben. Die Tanten und Onkels und die Cousins und Anne sind schon heute Abend wieder abgereist. Unser Haus ist aus allen Nähten geplatzt, kein Zimmer war mehr frei, überall hat jemand seine Bettstatt aufgeschlagen. Ich bin fast traurig, dass es jetzt langsam wieder leer wird.
Es ist fast schon ein Wunder, wenn Victor an einem Sonntag keinen Dienst hat. Wie lange ist es her, dass wir an einem Wochenende etwas unternommen haben. Wir wollten den Eltern natürlich etwas bieten und so haben wir den Zug nach Vaux-de-Cernay genommen und sind von dort bis zum Kloster gewandert. Am Vormittag war es sogar noch sonnig, erst später zogen dunkle Wolken auf. Als es schlimmer wurde und zu regnen drohte, haben wir uns in ein nettes Lokal im Dorf geflüchtet.
Ich glaube, am Gare du Nord kennen mich die Schaffner und Bahnvorsteher bereits, so oft, wie ich dort jemanden verabschiede. Mutter und Vater sind wieder auf dem Weg nach Gayton. In Le Havre dürften sie jetzt schon ihre Fähre erreicht haben. Victor muss für das vergangene Wochenende büßen und verrichtet seinen sinnlosen Dienst in der Kaserne.
Es ist ungeheuerlich, abscheulich, monströs. Die letzten beiden Worte verwendet der Figaro für das, was gestern im Palais Bourbon geschehen ist. Die Dritte Republik ist nicht mehr sicher, die Nationalversammlung, unsere Volksvertreter wurden angegriffen und verletzt. Ich habe nichts gegen Protest, nichts gegen Meinungsäußerung, aber sie darf nicht in brutaler Gewalt münden. Nein, es war kein Protest, es war ein Verbrechen. Die Täter können nur froh sein, dass sie ihr Gewissen nicht mit einem Menschenleben belastet haben. Ich glaube jedoch, solche Individuen besitzen gar kein Gewissen, keinen Anstand und keine Moral. Hier jetzt die Einzelheiten, wie ich sie aus dem Figaro zitiere, der erschreckend detailliert ist, weil einer seiner Journalisten als Augenzeuge zur Verfügung stand. Gestern, gegen vier Uhr am Nachmittag wurde von der Zuschauertribüne in der zweiten Galerie ein Gegenstand in die Menge der tagenden Parlamentarier geworfen. Der Gegenstand war eine Bombe, die explodierte, sodass Nägel und andere Metallteile in den Saal geschossen wurden. Ich erschauere, wenn ich daran denke, in einen solchen Hagel Fleisch zerfetzender Teile zu geraten. Es wird von schlimmen Verletzungen der Anwesenden geschrieben, Wunden an den Gliedmaßen, an Kopf und Brust. Das Palais Bourbon wurde sofort abgeriegelt und die, die es verlassen wollten, ob Attentäter oder Opfer, wurden mit Namen und Adresse polizeilich erfasst. Es gibt auch schon eine Gruppe von Tätern, die erkannt wurden. Eine Tat mildert sich nicht, weil die Täter verhaftet wurden, aber es ist der erste Schritt zur Abstrafung des Verbrechens. Victor spricht von Anarchisten, von dieser Gefahr, die in den letzten Jahren immer mehr in den Blickpunkt rückt und das Land und die Obrigkeit herausfordert. Jetzt gesteht er mir das Vorkommen weiterer Bombenattentate, die sich letztes Jahr im März ereignet haben und von denen neben zwei Wohnhäusern auch eine Kaserne getroffen wurde. Ich habe gefragt, welche. Victor hat nur geantwortet, dass er nicht in Gefahr gewesen sei. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Gazetten im letzten Jahr über derartige Vorfälle berichtet haben. Mag sein, dass ich es nicht wahrgenommen habe. Jetzt will ich aufmerksamer sein, aber es bedrückt mich. Ich hoffe nur, es wird einmal genug sein und dass wieder Ruhe einkehrt.
Читать дальше