Wir haben den dritten Advent. Das Jahr neigt sich dem Ende zu und auch im Strand Magazine von diesem Monat wurde der wohl letzte Fall von Sherlock Holmes veröffentlicht. Diese Endgültigkeit resultiert aus der Tatsache, dass Mr. Holmes nicht mehr unter den Lebenden weilt. Der Schriftsteller hat seinen Helden sterben lassen. Obwohl es nur fiktive Geschichten sind und kein wirklicher Mensch ums Leben gekommen ist, bin ich etwas traurig um dieses Ende. Schade, so bleibt mir nur, die Geschichten und Romane ein zweites oder drittes Mal zu lesen, um vielleicht noch die Dinge zu entdecken, die mir bei den Malen zuvor entgangen sind.
Heute wurde im Petit Journal noch einmal groß über das Bombenattentat vom 9. Dezember berichtet. Auf der Titelseite prangte eine schreckliche Skizze, die in ihrer farbigen Ausmalung die Tat verdeutlicht. Die Bombe ist dargestellt wie ein Stern, der mit seinen Strahlen die verletzenden Geschosse in alle Richtungen treibt. Seit einiger Zeit ist auch der Name des Täters der Öffentlichkeit bekannt. Es ist der mittellose Handwerker und Streuner Auguste Vaillant. Sein Name geht jetzt überall in Paris um. Der Prozess gegen ihn ist bereits angestrengt. Es fragt sich nur, wie die Tat gesühnt werden muss. Es hat zum Glück keine Menschenleben gekostet, Vaillant ist somit also auch kein Mörder. Victor meint aber, dass die Tat auch ohne Todesopfer außerordentlich verwerflich sei und nur die Höchststrafe gefordert werden kann. Es war ein Angriff auf die Republik, auf Frankreich, auf die Vertreter des Volkes. Vaillant hatte großes Glück, weil alle Verletzten mit dem Leben davongekommen sind. Ob dies seine Absicht war, ist nicht klar, und ob es bei seiner Verurteilung in die Waage gelegt wird, ist ebenfalls noch offen.
1894
Paris, 10. Januar 1894
Weihnachtsgrüße aus Amerika. Diesmal hat Jacques geschrieben. Pierre und er sind in New York. Mutter hatte es schon über Tante Carla erfahren. Onkel Joseph musste ihnen nun doch etwas Geld schicken. Jetzt soll es aber schon bessergehen. Seit ein paar Wochen arbeiten sie im Hafen, leider keine Büroarbeit, wie es sich die beiden über kurz oder lang wünschen. Für Pierre wird dies aber schwer, weil er noch immer nicht gut genug Englisch spricht. Zunächst haben sie sich aber an die körperliche Arbeit gewöhnt und machen natürlich alles, um Geld zu verdienen. In New York ist es jetzt auch sehr kalt, Winter eben. Jacques berichtet aber, dass es in Kalifornien, an der amerikanischen Westküste, das ganze Jahr über schön sein soll.
Jeannette wurde heute von einem Gendarmen nach Hause gebracht. Ihre Lippe war blutig und sie war auch noch ganz benommen. Es ist in der Fischhalle beim Großmarkt passiert. An einem der Stände hat sie unseren Fisch kaufen wollen. Die Marktfrau hat ihr einen angeboten, den Jeanette aber nicht sehr frisch fand und darüber ist dann der Streit entbrannt. Am Ende hat die Marktfrau doch tatsächlich mit dem Fisch auf unsere arme Jeanette eingeschlagen und sie verletzt. Die Polizei wurde gerufen und es soll auch noch ein Handgemenge mit den anderen Marktfrauen gegeben haben, bis sich alles wieder beruhigt hatte. Ich habe Jeanette eben zum Arzt gebracht, die Lippe ist noch dick und mit Jod bestrichen. Es sieht nicht sehr vorteilhaft aus, aber Jeanette hat sich schon wieder beruhigt. Sie will auch niemanden anzeigen. Der Gendarmen hatte es ihr angeboten. Ich weiß auch nicht, was sie machen soll, aber vielleicht ist es ganz gut, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Ich wollte eigentlich gar nicht mehr über das Thema schreiben und habe mich während des Prozesses gegen Auguste Vaillant auch erfolgreich zurückgehalten. Vor wenigen Tagen wurde aber das Urteil verkündet und dann auch am 5. Februar vollstreckt. Victor hatte recht, es ist die Guillotine geworden. In der Presse war noch zu lesen, dass Vaillants Tochter ein Begnadigungsgesuch an Madame Carnot gerichtet hat, dies aber ohne Erfolg, obwohl es namhafte Befürworter gab. Ich glaube, es ist richtig, einen anarchistischen Attentäter hart zu bestrafen, um die Anarchisten generell in die Schranken zu verweisen. Das Attentat vom 9. Dezember hat jedenfalls auch ein Echo im Ausland gefunden. Einige Exemplare der New York Times haben den Weg nach Paris gefunden, durch Zufall habe ich in einem Café die Ausgabe vom 6. Februar entdeckt und den Artikel gelesen. Die Amerikaner interessiert wohl mehr, wie die Strafe vollstreckt wurde, denn dies war minutengenau in der New York Times zu lesen. Der Grund aber, warum ich die Anarchie in Paris noch einmal erwähne, ist ein beängstigender Vorfall. Meine Gebete wurden nicht erhört. Gestern ist eine Bombe in einem Café am Gare Saint-Lazare explodiert. Diesmal hat es Menschenleben gekostet. Der Figaro schreibt von einer Frau, die getötet wurde und von weiteren zwanzig Personen, die Verletzungen erlitten haben.
Es gibt immer wieder neue Schlagzeilen und eine neue Bombe und das alles innerhalb nur weniger Wochen. Diesmal war nicht Frankreich das Ziel, nein, schlimmer, das königliche Observatorium in London. Schlimmer deswegen, weil ein französischer Anarchist dem Ansehen unserer Nation einen beschämenden Dienst erwiesen hat. Die Welt wird Angst vor den Franzosen haben, denn sie besuchen ihre Nachbarn und werfen Bomben. Zum Glück sind sie nur mäßig erfolgreich, denn das Mordwerkzeug konnte nicht mehr in das Observatorium gebracht werden. Es ist noch vor dem Gebäude explodiert und hat nur dem Täter selbst geschadet, ihn sogar getötet. Nicht auszudenken, wenn das Attentat Erfolg gehabt hätte.
Jeanette brachte heute zwei riesige Fische vom Großmarkt mit nach Hause, einen Steinbutt und einen Knurrhahn. Sie hatte nicht den Auftrag so viel zu kaufen und sie hat die Fische auch nicht gekauft, sie wurden ihr geschenkt. Das böse Fischweib vom Großmarkt hat nämlich die Reue gepackt und die Dankbarkeit dafür, dass Jeanette sie nicht bei den Behörden angezeigt hat. Die Fische sind diesmal beste Ware und wir müssen zusehen, dass wir einen davon weiterverschenken.
Ich brauche nur die Gazetten zu zitieren. Gestern, wieder eine Bombe, wieder ein Toter oder eine Tote, was noch nicht bekannt ist. Diesmal war es in der Rue Saint-Jacques, im fünften Arrondissement, auf der anderen Seite der Seine. Wenigstens trennt uns der Fluss von den Attentätern oder besser von den Orten ihrer Gewalt. Aber das ist kein Grund sich zu beruhigen, wahrlich nicht, denn die Bombe am Bahnhof Saint-Lazare, die vor nicht einmal einer Woche explodierte, hätte ich in der Rue Marcadet hören müssen, so nah war es. Dies ist mir zum Glück erst jetzt bewusstgeworden, als Victor und ich vorgestern mit einer Droschke an dem Café vorbeifuhren. Das Café war geschlossen, wie konnte es anders sein. Sein Inneres hätte ich mir aber nicht ansehen mögen, schon allein, weil dort ein Mensch auf so grausame Weise gestorben ist. Was hat der Februar noch für uns. Seit Vaillants Haupt fiel, fallen auch die Bomben.
Mutter hat einen ganz aufgeregten Brief geschrieben, sofern ich dies aus ihrer Schrift und ihren Worten ablesen kann. Natürlich ging es um die Bombe in Greenwich. Vater wird fast täglich angesprochen, was mit den Franzosen los sei. Ich habe es gewusst und jetzt ärgert es mich doppelt, dreifach, nein hundertfach. Ich weiß gar nicht, ob ich mich vorerst noch nach Liverpool trauen kann, ob sie mich an der Grenze noch hineinlassen, mir schon das Betreten der Fähre verweigern. Mutter fühlt sich unwohl. Ihre Bekannten halten zu ihr, aber wie ist es mit den einfachen Leuten. In den britischen Zeitungen wird berichtet, es hätte nie zuvor einen derartigen Anschlag in England gegeben und dass der anarchistische Terror jetzt im Lande angekommen sei. Ich muss ganz schnell zurückschreiben oder besser noch telegrafieren, um Mutter zu beruhigen. Vielleicht sollten Mutter und Vater auch für ein oder zwei Wochen nach Paris kommen, und wenn Vater es nicht einrichten kann, dann eben nur Mutter. Vielleicht fühlt sie sich ja dann besser und im April hat die Welt, haben die Engländer, die Angelegenheit bestimmt schon vergessen. London wird bald seine eigenen Anarchisten haben, meint Victor, der Anarchist sei schließlich keine französische Erfindung.
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