»Werde ich eigentlich auch noch gefragt?« Lena gab ihrer Stimme einen gefährlich leisen Klang. Dabei blitzte sie Anna wütend an.
Sentran antwortete an Annas Stelle, ganz ruhig, fast schon unterkühlt: »Falls du dich erinnerst, Lena, ich habe dich gerade erst gefragt, was du gerne tun möchtest. Ich wollte dir deinen Wunsch erfüllen. Doch jetzt weiß ich nicht so recht. Es gebietet wohl die Höflichkeit, dich nicht einfach hier stehenzulassen.«
***
Viktor zog Anna aus der Gefechtslinie.
»Komm, Süße. Lass uns schnell reingehen, bevor wir noch was abkriegen. Das dürfte zwar äußerst interessant werden, aber vielleicht auch ein bisschen gefährlich, wenn zwischen den beiden die Fetzen fliegen«, flüsterte er ihr ins Ohr und schob sie weiter.
Natürlich hatte Sentran das mitbekommen. Allmählich zeigten sich die ersten Risse in seiner zwar noch beherrschten, aber ohnehin bereits bröckelnden Fassade.
… Ihm war klar, dass Vitus ihn sowohl auf Viktors als auch auf Annas Bitte zum Bachsprung geschickt hatten, um Lena abzuholen. Als gehorsamer Wachmann musste er diesem Befehl selbstverständlich ohne Widerworte Folge leisten, was ihm ausgesprochen schwergefallen war. Die Vorstellung, dieses aufregende Menschenmädchen hinter sich auf dem Pferd sitzen zu haben, machte ihm Bauchschmerzen.
Schon auf der Geburtstagsfeier der Zwillinge hatte ihn Lenas Nähe gehörig irritiert und ihm später schlaflose Nächte bereitet. Deshalb hatte er sich fest vorgenommen, ihr aus dem Wege zu gehen, soweit es ihm irgend möglich war. …
Jetzt war es also ganz anders gekommen, was ihn wütend machte, zumal er Viktors leisen Spott deutlich wahrnehmen konnte. Aufgebracht drehte er sich zu Anna und Viktor, doch die hatten bereits ihr Pferd Ariella zum Stall geschickt und liefen nun kichernd durchs große Schlosstor.
Mit zorniger Miene wandte er sich wieder Lena zu. Aber all sein Zorn verrauchte bei ihrem Anblick: Dicke Tränen kullerten ihr über die Wangen.
Was war denn nun schon wieder los? Gerade war sie doch noch so wütend gewesen, genauso wie er.
»Das muss am Menschsein liegen«, entschied er für sich. »Sie schreit, sie zittert, sie fällt in Ohnmacht, sie weint. – Oh, Himmel nochmal, sie weint!«
Absolut unüberlegt stürzte er auf sie zu, legte ihr eine Hand in den Nacken und zog sie sacht zu sich heran. Ihrem störrischen Versuch, sich ihm zu entziehen, gab er nicht nach und legte auch seinen anderen Arm um sie.
»Wieso weinst du denn?«, fragte er leise, darum bemüht, möglichst freundlich zu klingen.
»Ich weine ja gar nicht«, schluchzte sie.
Erleichtert registrierte er Lenas Gedanken, die ihn darüber aufklärten, dass sie sich dumm vorkam, hier zu stehen, in seinen Armen und zu heulen, weil ihre Schwester sie einfach alleine mit ihm hatte stehenlassen.
Er zog sie noch dichter an sich, beugte sich zu ihr hinunter und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. Sie duftete wieder so wunderbar wie schon bei den vorherigen Zusammentreffen, nach Zitrus, Orangenblüten und Sommer.
»Gut, wenn du also gar nicht weinst und dich höchstwahrscheinlich auch gar nicht unwohl mit mir alleine fühlst, könnten wir ja tatsächlich ein paar Schritte durch den Park gehen.«
Er legte einen Finger unter ihr Kinn, um ihr Gesicht anzuheben, damit sie ihm in die Augen sah. Dann strich er ihr mit dem Daumen der anderen Hand die Tränen fort.
… Er wollte nichts mehr mit Frauen zu tun haben, die sein Herz berührten. Nie wieder! Das hatte er sich geschworen, denn er war ein gebranntes Kind. Außerdem schien auch Lena nicht gerade auf der Suche nach einer neuen Beziehung zu sein. Das hatte er schon letztens überdeutlich bei ihr gespürt. …
***
Doch sie taten genau das Gegenteil von dem, was sie sich vorgenommen hatten. Sie warfen ihre festen Vorsätze über Bord, trotz ihrer argen Bedenken. Beide gleichzeitig!
Als ihre Münder sich trafen, zerbarst etwas in Lenas Kopf und ihre Beine gaben nach. Aber er hielt sie fest. Sie verfluchte sich dafür, dass ihr in seiner Nähe schon wieder schwindlig wurde, und kämpfte mit aller Macht dagegen an. Sie wollte nicht aufhören mit dem, womit sie gerade erst begonnen hatte. Nein, auf keinen Fall wollte sie es beenden!
Lena stellte sich auf die Zehenspitzen, schlang ihre Arme um seinen Nacken und versank in überschäumenden Gefühlen. Schon der Beginn des Kusses hatte sie ins Wanken gebracht, doch es wurde immer fesselnder und erregender.
Einer Achterbahnfahrt gleich stürzte Sentran sie einen tiefen Abgrund hinab, um sie daraufhin übergangslos hinauf in schwindelnde Höhen zu katapultieren. Anfangs hatte er zärtlich mit ihr gespielt, ihre Lippen gekostet, dann mit seiner Zunge die ihre gesucht und gefunden und sie nicht mehr losgelassen.
Wie konnte sie annehmen, dieser Mann sei kühl und reserviert? Mitnichten! Er war ein Vulkan und sie tanzte auf ihm. Oh Gott, sie würde niemals aufhören mit dem Tanz. Ihre Hände verkrallten sich in seinem Haar. Sie stöhnte leise auf, weil er sie zu sich hochriss. Es war, als wäre sie schwerelos.
»Sie ist viel zu klein und zart«, dachte er. »Sie ist ein Mensch. Was, wenn ich ihr wehtue, sie verletze.«
Als hätte auch sie die Fähigkeit, in seinen Geist einzutauchen, klammerte sie sich an ihn und wurde dabei stetig fordernder. Jede Faser ihres Körpers schrie nach ihm: Nicht aufhören! Bitte nicht aufhören!
Doch er tat es. Langsam löste er sich von ihrem Mund und legte seine Stirn an ihre. Allerdings hielt er sie nach wie vor fest in seinen Armen, sodass ihre Füße ein paar Zentimeter über dem Boden baumelten.
»Nein, ich glaube wirklich nicht, dass du Angst hast, mit mir allein zu sein, süße Lena.« Jetzt sah er ihr in die grün schimmernden Augen. »Wie schön du bist. Am liebsten würde ich dich immerzu anschauen.« Vorsichtig stellte er sie auf ihre Füße. »So klein und zart.« Er strich mit dem Finger über ihre errötende Wange. »Deine Haut, sie schimmert. Deine Augen, manchmal sind sie grau und dann wieder grün. Und dein Mund, dieser Mund …«
Er riss sie erneut von den Füßen und verschlang diesen Mund. Eigentlich hatte er es beenden wollen, doch jetzt siegte sein Begehren über jegliche Vernunft. Er wollte sich nur noch in diesem Kuss verlieren. Mit ihr!
***
»Stopp, stopp, stopp! Wo willst du denn hin?«, erkundigte sich Viktor, als Anna sich heimlich aus der Schlossküche zu schleichen versuchte.
»Ich will nur mal kurz nach Lena sehen. Sie ist schon seit fast einer Stunde da draußen, mit Sentran, in der Kälte.« Hastig wandte sie sich ab, weil Viktor sie amüsiert angrinste. »Wir haben sie einfach stehenlassen, Viktor. Das war gemein von uns.«
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