»Du meinst, ich dürfte dort sogar übernachten?«
»Sicher doch. Ich hab das gerade mit Viktor ausgemacht.«
»Du meinst, du hast dich gerade jetzt eben mit ihm gedanklich verbunden, während du mit mir geredet hast?«
Anna nickte fröhlich.
»Wow, das ist echt cool, Anna.«
Sie verzog ein bisschen das Gesicht, schwieg aber. Anna sah deutlich, dass ihre Schwester wieder einmal mit Annas elfischen Fähigkeiten haderte.
»Lena Nell«, sagte sie deshalb streng, »wir freuen uns wirklich, wenn du mitkommst, aber ohne Neidfaktor, hörst du? Du bist so eine tolle Frau. Du brauchst niemanden zu beneiden. Und das ist das letzte Mal, dass ich mit dir darüber gesprochen habe, verstanden?«
Lena grinste verlegen. »Verstanden.«
»Gut, dann machen wir das so. Ich muss jetzt los. Mach es gut.« Sie gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Bis morgen, große Schwester. Tschö.«
»Ja. Tschö.«
Draußen vor der Haustür wurde Anna von Viktor überrascht. Eigentlich hatte sie durch den Wald laufen wollen, doch er stand mal wieder an sein schwarzes Cabrio angelehnt, hatte die langen Beine lässig an den Fußknöcheln übereinandergeschlagen und spielte gedankenverloren mit seinem Elfenstern am Schlüsselbund. Er schaute sofort hoch, als sie die Eingangstreppe hinunterlief, und strahlte sie an.
Was für einen herrlichen Anblick er ihr jeden Tag aufs Neue bot, dachte Anna glücklich. Nach wie vor konnte sie es nicht hundertprozentig fassen, dass dieser wunderbare Halbelfe ihr gehörte, ihr allein.
»Und du gehörst mir, Kleines, mir ganz allein.«
Viktor zog sie dicht an sich, um sie ausgiebig zu küssen. Dann wickelte er ihr seinen Schal um, obwohl ihr nach seinen Küssen und seiner Sonne kein bisschen kalt war.
»Ich dachte, wir fahren heute mal ins Kino. Da waren wir noch nie. Im Internet hab ich was von einem Quentin Tarantino gelesen. Das soll so ein Kult-Regisseur sein. Der hat einen neuen Film rausgebracht. Wir könnten aber auch in den Hobbit -Film gehen. Du hast die Wahl.«
Anna schob die gespitzten Lippen hin und her. »Kino? Das ist eine tolle Idee. Hhm, lass mal überlegen: Viel Blut und noch mehr Tote oder Fantasy? Tja, da kann ich mich gar nicht entscheiden. Mich interessieren beide Filme. Also triffst du die Wahl, mein Prinz.«
***
Was ging da vor?
Er hatte sie heute mit dem Auto abgeholt, war aber nicht mit ihr zu seinem Haus, sondern nach Düsseldorf gefahren und in einem Kino verschwunden.
Mist! Wer weiß, was die sich dort anschauen würden? Das könnte zu lange dauern. Schließlich musste er auch seiner regulären Arbeit nachgehen.
Er überlegte kurz, während er ruhelos an den Nägeln kaute. Dann wendete er seinen Wagen. Er würde wiederkommen. Da war eindeutig was im Busch und er würde es herausbekommen.
Beim Anblick seiner zerkauten Fingernägel verzog er angewidert das Gesicht. Vielleicht sollte er sich doch ein Päckchen Zigaretten kaufen.
***
Lena war atemlos – atemlos von der unglaublichen Landschaft, die wie im Traum an ihr vorbeigezogen war:
Der Wald. Die Lichtung. Der Bach. Die schimmernden Hügel, die sich wie sanft wogende Wellen eines grünen Ozeans aneinanderschmiegten. Die Felder. Der See. Der Fluss. Der überirdisch blaue Himmel.
All diese Bilder schwirrten wie großartige kunstvolle Malereien an ihr vorüber, so, als betrachtete sie in einem Museum die überdimensionalen Werke begnadeter Künstler, allein ihr fehlte die Zeit zum Innehalten.
Denn schon setzte das Finale ein: Sie erblickte das Schloss mit seinem mächtigen Mauerwerk aus rosa- und naturfarbenem Stein, das trotz aller Gewaltigkeit auch etwas Zartes in sich barg. Das Fachwerk, das sich in ordentlicher Unordnung darauf aufbaute, wurde gekrönt von zahlreichen Türmchen und Erkern, Bögen und Schieferdächern, die im Sonnenlicht blitzten.
In den vergangenen Tagen hatte Anna ihr allerhand vom Elfenland erzählt, auch vom Schloss. Sie hatte gesagt, dass es ein wenig an die Burg Eltz erinnern würde. Lena gab ihr recht, denn auch sie hatte die wunderschöne Burg schon einmal in natura gesehen.
Doch dieses Schloss hier, so befand Lena, war mehr als nur wunderschön. Es strahlte Ruhe, Kraft und Würde aus, beeindruckte mit einer geheimnisumwobenen Lebendigkeit. Völlig in den Bann gezogen kamen ihr romantische Fantasien in den Sinn: Von tanzenden Schönheiten, die mit ihrem klaren Gesang die Luft anfüllten und deren langes Lockenhaar sowie hauchzarte duftige Gewänder im lauen Frühlingswinde wehten und die voller Grazie ihre Händ…
Mit einem Mal holten sie zwei starke Arme aus ihren Träumereien – und Lena fiel der weitere Grund für ihre Atemlosigkeit ein: Er!
… Er hatte sie hinter diesem geheimnisvollen Bach in der sogenannten Vorwelt erwartet. Hinter dem Bach, über den sie gemeinsam, Hand in Hand mit Viktor und Anna hatte springen müssen, um ins Elfenreich zu gelangen.
Als sie ihn dort erblickt hatte, war sie stocksauer geworden, und zwar auf Anna. Ihre eigene Schwester hatte ihr nichts davon erzählt, dass ausgerechnet Sentran kommen und Lena zu sich auf den Rücken eines riesigen schwarzen Pferdes ziehen würde.
Gott, war ihr das peinlich gewesen, wie ihr das Herz bis zum Halse geschlagen und sie vor Angst und Aufregung gezittert hatte. Bestimmt hatte er es bemerkt. Schließlich war sie ja hinter ihm gesessen, hatte ihn fest umschlingen müssen, damit sie nicht von dem vermaledeiten Pferd fiel.
Natürlich hatte er es bemerkt! Denn als sich ihr Puls fast überschlug, hatte er ganz sanft ihre Hand gedrückt. Oh mein Gott, dem blieb wirklich nichts verborgen! …
Nun hob er sie behutsam von dem Pferd, das so elegant durch die Elfenwelt geglitten war. Er hielt sie in seinen Armen, als wäre sie federleicht, und in einer Art, die ihrer Atemlosigkeit neuen Schwung verlieh. Unterdessen blieb seine Miene ernst und zurückhaltend, weshalb sich Lena aufs Neue furchtbar ärgerte.
»Der tut ja gerade so, als würden wir uns gar nicht kennen«, dachte sie missmutig.
Noch bevor ihr klar wurde, dass Sentran ihre Gedanken bestimmt hatte lesen können, sprach er die ersten Worte seit dem letzten Zusammentreffen: »Möchtest du dir das Schloss noch ein wenig anschauen oder lieber reingehen? Du kannst es dir aussuchen, ganz wie du es wünschst. Es ist vielleicht ein bisschen kalt zum …«
»Lena ist nicht kalt«, fiel Anna ihm ins Wort. »Du könntest eine Runde mit ihr durch den Park drehen. Da kann sie das Schloss auch von der anderen Seite bewundern. Außerdem bekommt sie damit die Gelegenheit, sich ein Bild von der Kirschbaumallee zu machen, schließlich werden wir in nicht mal zwei Monaten dort zur Hochzeit entlangwandeln.«
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