»Das darf doch wohl nicht wahr sein«, stöhnte Lena. Immer noch wirkte sie ein bisschen kraftlos, so, als wäre ihr der Schreck ordentlich in die Glieder gefahren. »Werde ich denn hier die ganze Zeit durchleuchtet wie beim Röntgenarzt?«
»Ich weiß nicht, was ein Röntgenarzt ist, Lena, aber ich will dich ganz sicher nicht durchleuchten. Das liegt mir fern. Nur bin ich es halt nicht gewohnt, so laute Gedanken zu hören.«
»Na toll!«, fauchte sie. »Jetzt gib ruhig noch mir die Schuld, du, du …«
»Du, was ?« Er hob spöttisch die Brauen. Keinesfalls wollte er seine Erleichterung darüber zu erkennen geben, dass das Mädchen vor lauter Zorn nun wieder etwas Farbe hatte. »Sprich dich ruhig aus. Ich werde auch mein Möglichstes tun, um nicht wieder in deinen hübschen Kopf zu gucken. Notfalls halte ich mir Augen und Ohren zu. – Oh, zur Sicherheit wohl auch noch die Nase, hätte ich so viele Hände.«
Damit hatte er sie augenscheinlich provoziert, so plötzlich, wie ihr bisschen Farbe zu einem Puterrot wechselte. Mehr noch, sie holte weit mit dem Arm aus, offenkundig in der Absicht, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Sentran jedoch griff sich ihre Hand derart blitzartig, dass Lena ihn verdutzt anstarrte.
»Das lässt du lieber bleiben«, kommentierte er kühl, beließ es jedoch dabei – fast. »Es geht dir unverkennbar besser.« Allmählich kehrte der reservierte Wachmann in ihm zurück. »Komm, wir gehen wieder ins Wohnzimmer.« Er lockerte seinen Griff und wollte sie mit sich ziehen.
Lena jedoch versuchte, sich ihm zu widersetzen. »Lass mich einfach in Ruhe und verschwinde aus meinem Dunstkreis, verflixt noch mal!«
Sentran spürte, wie eine immense Wut in und an ihr nagte, die nicht allein ihm galt. Er hatte Verständnis dafür, kannte er doch dieses Gefühl nur zu gut und nur zu tief. Interessiert musterte er sie genauer. War sie auch ein Stückchen größer als ihre Schwester, befand er sie dennoch für winzig klein. Jetzt, nachdem sie sich von Schock und Wut einigermaßen erholt hatte, schimmerte ihre Haut hell und zart. Ihr Haar war von einer eigenartigen Farbe, fast weiß, aber lang und glänzend, wie er es gerne mochte. Auch ihre Kleidung gefiel ihm: hautenge dunkle Jeans und ein grauer Pulli, der trotz des Rollkragens mehr von ihrer Figur preisgab als verhüllte.
Allerdings vermied er es, ihr ein weiteres Mal in die Augen oder auf den Mund zu schauen. Denn er bemerkte, wie sehr ihn das irritierte. Und wenn er eins nicht wollte, dann die Aussicht, sich noch einmal von einer Frau verunsichern zu lassen. Nein, er würde sich nie mehr mit einer Frau einlassen, die ihm den Kopf verdrehen könnte. Egal, ob Elfe oder Mensch.
»Komm«, wiederholte er sich, »sie machen sich schon Sorgen um dich«, und brachte sie zurück zu den anderen.
Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt
»Nein, Marius, habe ich nicht!«, raunzte Lena in ihr Handy. Sie schritt im Zimmer auf und ab, rieb sich entnervt die Stirn und blies die Wangen auf. »Pass auf, hör mir bitte ein letztes Mal zu!« Sie holte tief Luft. »Ich. Will. Dich. Nicht. Mehr. Sehen! Nie mehr! Es ist aus, verdammt noch mal! Verstehst du? Aus, aus, aus! Such dir ein anderes Opfer, das du nerven und herumkommandieren kannst!«
Sie stoppte den Redeschwall, der unaufhörlich aus ihrem Handy trötete, indem sie das Gespräch einfach wegdrückte und das Telefon dann aufs Bett warf.
»Gott, der Typ ist echt hartnäckig!«, rief sie wild mit den Armen fuchtelnd aus. »Und so einen Idioten hab ich mal süß gefunden. War ich da eigentlich blind, oder was?«
Anna hatte ihrer Schwester stillschweigend zugehört. »Ich fand den nie so prickelnd«, gab sie vorsichtig zu. »Er sieht zwar ziemlich schnuckelig aus, ist allerdings eher ein Kotzbrocken, denke ich. Jens hat wirklich recht. Du kannst froh sein, dass du ihn abserviert hast.«
»Sag das mal Marius. He, der bildet sich nämlich ein, wir wären noch zusammen und er würde mich noch lieben. So ein gottverdammter Schwachsinn! Er will sich andauernd mit mir treffen.« Lena sah ihre Schwester kummervoll an. »Was, wenn er hier auftaucht, Anna? Allmählich krieg ich es mit der Angst zu tun. Der ist so ätzend. Andauernd bombardiert der mich mit Telefonaten, SMS-en und E-Mails, schon seit geschlagenen zwei Wochen.«
»Reagier doch einfach nicht mehr drauf. Anscheinend kapiert der es ja nicht. Also sprich erst gar nicht mit dem. Irgendwann wird er sich schon wieder einkriegen und dich in Ruhe lassen.«
»Du hast leicht reden. Du siehst ja nicht immerzu seinen Namen auf dem Display.« Lena überlegte. »Vielleicht sollte ich mir einfach eine andere Handynummer geben lassen. Eine neue E-Mail-Adresse könnte auch nicht schaden. Dann würde wenigstens …«, sie wurde laut, als das Handy schon wieder anfing zu trällern, »… dieser scheiß Telefon- und Post-Terror aufhören! Verflixt und zugenäht!«
Sie nahm das Handy und drückte den Anruf weg, bevor sie das Ding ganz ausschaltete. »Ich schwöre dir, Anna, vorerst hab ich die Schnauze von Männern gestrichen voll. Mir reicht’s! Endgültig! Ein für alle Mal!«
Sie seufzte schwer, ließ sich aufs Bett fallen und schaute zu ihrer Schwester. »Was machst du heute eigentlich?«
»Ich?«, wunderte sich Anna über Lenas abrupten Themenwechsel. »Na, was soll ich schon machen? Zu Viktor gehen natürlich, schließlich ist Freitagabend. Warum?«
»Ach, ähm, nur so«, druckste die rum. Dabei spielte sie nervös mit den Fingern.
»Gottchen, Lena, du bist ja total verschossen in ihn. Was wird das nur geben? Von wegen ›Schnauze voll von Männern‹!«
Andererseits, warum nicht? Ein wenig Zerstreuung wäre für Lena jetzt wohl das Richtige. »Wenn du möchtest, dann komm doch morgen mit. Wir wollen Vitus und Loana im Schloss besuchen.«
Sofort schoss Lenas Kopf in die Höhe. Ihre Augen blitzten grünlich. »Morgen? Zum Schloss? Das wäre toll.« Dann jedoch erlosch das Blitzen. Mit sinkendem Kopf sackten auch ihre Schultern in sich zusammen. »Ah, verflucht, ich muss doch arbeiten, hab bis mittags Schicht im Salon. Das ist echt schade.«
Anna lächelte. Sie machte sich zwar wirklich Sorgen, Lenas Interesse an ihm könnte unerwidert bleiben. Doch war sie auch froh, dass ihre Schwester schon fast wieder die alte war. Außerdem würde sie ihr nur zu gerne das Schloss zeigen.
»Lena, das ist doch super. Viktor und ich sind ja ohnehin eher die Langschläfer. Wir holen dich von der Arbeit ab, fahren schnell nach Hause, damit du was einpacken kannst, und danach geht’s ab in die Märchenwelt. Das Schloss ist wirklich groß. Da gibt es bestimmt auch ein Kämmerlein für dich, wo du schlafen kannst.«
Lenas Augen bekamen erneut diesen besonderen Glanz, sodass sie nun eindeutig mehr grün als grau schimmerten. Anna wusste, das taten sie immer, wenn Lena aufgeregt oder glücklich war.
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