Seit dieser Entdeckung war er bereits einige Male hergekommen, um nachzuschauen, wer, wie oft und wie lange in den Wald ging. Er nahm sich vor, dies von nun an sogar noch regelmäßiger zu tun.
Umständlich kramte er aus seiner Jackentasche einen kleinen Block mit Stift hervor, um sich eifrig Notizen zu machen. Nachdem er das Notizbuch wieder eingesteckt hatte, folgte er dem verschlungenen schmalen Waldweg, fand jedoch – wie auch schon die letzten Male – nichts. Da waren einfach nur ein Weg und ein Wald. Sonst nichts!
Eine Zigarette wäre jetzt nicht schlecht, dachte er grimmig. Dann hätte er wenigstens was zum Zeitvertreib. Verflixt! Blöde Gesundheit! Aber er hatte bereits über drei Monate lang durchgehalten. Also würde er auch weiterhin beim Nichtrauchen bleiben.
Er wartete noch eine Stunde, verharrte Füße stampfend und Hände reibend in der eisigen Kälte. Als sich weiterhin nichts tat, machte er kehrt und verließ nachdenklich den Wald.
***
Nachdem Anna mit den dreien gemeinsam den zweiten Eingang passiert hatte, befand sie sich wieder in der Welt der Menschen. Nur wenige Schritte vom Wald entfernt konnten sie bereits hinter ein paar dichten Büschen das zweigeschossige Reetdachhaus mit den roten Klinkersteinen und weißen Sprossenfenstern erspähen. Davor den hellen Kiesweg, der zum Hauseingang führte, rechts und links flankiert von einem hübschen Vorgarten mit immergrünen Stauden.
Das war das Haus der Zwillinge oder auch gerne Müller-Haus oder aber einfach nur Reetdachhaus genannt. Obwohl es fast fünfzig Kilometer weit von Annas Zuhause entfernt lag, konnten sie es auf diese elfische Weise in nur einigen Gehminuten durch den Wald erreichen.
Wenig später saßen sie gemeinsam im großen Wohnzimmer des hell und luftig modern eingerichteten Hauses auf bequemen weißen Ledersofas und -sesseln.
»Die Musik ist echt cool, Jens. Wie heißen die?« Viktor klang begeistert, als Jens ihm seinen iPod gab und er das Lied abspielte.
» Biffy Clyro «, erklärte der. »Ist ’ne schottische Gruppe. Hab letztens erst von denen gehört. Ich find die auch echt gut.«
»Könnten wir diese coole Musik eventuell in einer Lautstärke genießen, bei der uns nicht die Ohren abfallen?«, wandte Viktoria leicht gereizt ein. »Man kann sich ja gar nicht richtig unterhalten.«
Jens und Viktor, sogar Ketu verdrehten demonstrativ die Augen.
»Okay, wie wär’s, wenn ihr drei nach oben geht?«, schlug Viktoria ungeduldig vor. »Da könnt ihr eure Musi noch ein bisschen lauter aufdrehen und weiter darüber fachsimpeln. Und wir könnten uns erwachsenen Gesprächen widmen.«
Ketu sagte nichts, lächelte nur sanft.
Das Reden übernahm Viktor: »Kommt, Jungs, lasst uns raufgehen. Kleinen Mädchen soll man nicht widersprechen, wenn sie große Damen spielen wollen.«
Das brachte ihm einen Stupser von Anna ein. Er belohnte sie mit einem spitzbübischen Grinsen. Viktor erhob sich, nahm den iPod von der Station und winkte die anderen beiden hinter sich her.
Viktoria stand daraufhin auch auf. Sie schloss die Zimmertür hinter ihnen, nicht ohne einen Seufzer der Erleichterung auszustoßen.
»So, jetzt können wir endlich mal in Ruhe über die Hochzeit reden, ohne dass die Jungs uns nerven. Wir müssen nämlich darüber nachdenken, was wir als Brautjungfern anziehen wollen. Loana hat gesagt, sie lässt uns da freie Hand.«
Wie so oft, wenn sie überlegte oder verlegen war, kaute sie auf der Unterlippe. »Natürlich hab ich mir so meine Gedanken gemacht. Ich finde, es sollte etwas sein, was uns allen gefällt und zu blonden und braunen Haaren passt.«
Viktoria sah Lena und Silvi an. »Hat Anna euch schon gefragt, was ihr davon haltet, dass wir blond mit blond und braun mit braun kombinieren wollen?«
In Lenas Gesicht breitete sich ein schiefes Grinsen aus. »Du meinst, ob ich dazu meine Haarfarbe behalte, oder?«
»Tja, nun, ich dachte halt, das wäre bestimmt hübsch: Zwei Blondinen und zwei Brünette, jeweils nebeneinander. Die Kleider müssten ja nicht dieselbe Farbe haben, aber sie sollten irgendwie miteinander harmonieren.«
Lena grinste immer noch. »Mach dir mal keinen Kopf. Ich habe sogar vor, meine Naturfarbe wieder anzunehmen, die ist nämlich fast die gleiche wie Annas. Das wäre doch bestimmt in deinem Sinne, nicht wahr?«
Jetzt mischte Anna sich ein. »Das musst du aber nicht, Lena. Nur wenn du Lust drauf hast, klar?«
»Sicher, Schwesterchen, ich hab halt Lust drauf.«
Sie drehte sich zu Silvi. »Was sagst du denn dazu?«
Anna hatte mental sehr wohl registriert, wie Silvi sich die ganze Zeit zurückhielt. Nach wie vor schien sie Probleme damit zu haben, dass Viktoria im letzten Sommer, getarnt als rothaarige Viola , zusammen mit Jens und Anna auf der Nordseeinsel gewesen war. Ohne Silvi. Unverkennbar pikste sie die Eifersucht hin und wieder ins Herz, obwohl sie gesehen hatte, wie liebevoll Ketu und Viktoria miteinander umgingen und es wirklich keinen Grund für ihren Argwohn gab.
»Jaa«, begann Silvi langsam, »das mit zwei zu zwei finde ich ziemlich gut. Die Frage ist nur: Geht blond mit blond und braun mit braun oder gehen zwei gemischte Paare? Und dann gibt es da so ein paar Kleiderfarben, für die ich mich persönlich nicht unbedingt begeistern könnte. Bonbonrosa und so etwas. Also, das ist nicht so meins.«
Viktoria lachte fröhlich. »Das mit der Pärchenbildung ist eine gute Frage, Silvi. Bei der Farbe werden wir uns schon noch einig. Ich würde zu gern Vitus’ Gesicht sehen, wenn wir alle in Bonbonrosa zu seiner Hochzeit auftauchen würden.«
***
»Soso, würdest du das gerne?« Vitus lächelte seine Tochter mit hochgezogenen Brauen an.
Er hatte sich in voller Größe von eins-fünfundneunzig derart im Türrahmen aufgebaut, dass er seine gut dreißig Zentimeter kleinere Verlobte hinter sich verbarg. Doch dann wurde er von ihr einfach zur Seite geschubst.
»Entschuldigt bitte, ihr Lieben, aber mein zukünftiger Ehemann benimmt sich mal wieder wie ein rohes Klotzholz. Er war schon drin, bevor ich überhaupt die Chance hatte, die Türglocke zu läuten.«
»Klotzholz?« Amüsiert zog Vitus die Brauen noch höher.
»Was?«, fragte Loana gereizt zurück.
»Es heißt: Holzklotz und nicht Klotzholz, Kened .«
Loana schnaubte laut auf. »Pah! Das kann ja jeder behaupten.« Als sie allerdings sah, wie die Frauen auf der Couch sich vor Lachen kringelten, fing sie selbst an zu kichern. »Na gut, du roher Holzklotz!«
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