„Was wollen Sie dann in Sea Creek? Um diese Jahreszeit? Haben Sie Familie dort?“
Irritiert, weil ich es nicht gewohnt bin, ausgefragt zu werden, und er immer noch die Tür des Buses offen hält, halte ich mich am Riemen meiner Tasche fest.
„Nicht direkt. Ich muss aber dringend dorthin.“ Ich werfe ihm einen leicht drängenden Blick zu und versuche dabei zu lächeln. Mach doch endlich die Tür zu und fahr ab! Die Leute im Bus sehen neugierig nach vorn und fragen sich, warum wir nicht endlich abfahren.
„Tja dann!“ Er schließt die Tür und sieht auf die Straße. Ich beeile mich, um auf einem der Sitze Platz zu nehmen.
Eine kurze Fahrt und eine mäßig peinliche Verabschiedung später stehe ich vor dem Straßenschild von Sea Creek, im Suffolk County – mit 955 Einwohnern. Ab heute dann wohl 956. Anders als die umliegenden Städte ist dieses Dorf noch nicht völlig dem Sommertourismus der Hamptons-süchtigen New Yorker zum Opfer gefallen. Das kleine Küstenstädtchen besteht aus einer gepflegten, beinahe idyllischen Hauptstraße und einer Strandpromenade mit echtem Meerblick, der mich auf der Stelle umhaut. So etwas Schönes und Friedliches habe ich lange nicht mehr gesehen. Ich wünschte, ich hätte hier von Mom oder Bill Abschied nehmen können und nicht auf einem scheußlichen Friedhof, der nichts mit ihrem Leben zu tun hatte. Als ich den Sonnenuntergang bemerke, krame ich nach dem Zettel mit der Adresse. Die Bar liegt direkt auf der Strandpromenade. Ich gehe verwitterte Holzplanken entlang, meine Augen bleiben dabei am Meer und an den Booten hängen, als mir klar wird, dass ich sie beinahe verpasst hätte.
Mir bleibt der Mund offen stehen, als ich das Neonschild mit dem Namen Bill’s Blaze entdecke. Es leuchtet, genauso wie die Bar darunter, aus der Gemurmel und Musik dringen. Ich habe eine geschlossene Bar erwartet, still und leise, und nicht ein volles Haus an einem frühen Donnerstagabend.
Auf wackligen Beinen öffne ich die verzogene Tür, auf der deutlich „Geöffnet“ steht. Als ich den Raum betrete, drehen sich Köpfe nach mir um und starren mich an. Ich fühle mich sofort unwohl in meiner Haut. So gut es geht, ignoriere ich die neugierigen Blicke der Barbesucher und gehe stattdessen auf die große Bartheke zu, die mir gegenübersteht und dicht bedrängt von Menschen ist, die etwas trinken wollen. Ich bin nicht besonders groß, daher fällt es mir schwer, über die Leute, die die Bar regelrecht bevölkern, drüber zu sehen, um denjenigen zu finden, der hier das Sagen hat. Schließlich muss irgendjemand den Laden schmeißen, so voll wie es hier drinnen ist.
„Entschuldigung!“ Ich zwänge mich an einem Typen mit Footballspieler-Figur vorbei und stemme meine Zehen auf die Fuß-Reling, um hinter die Theke zu blicken.
„Hey, Kleine! Wenn du echt so dringend was zu trinken brauchst, gebe ich dir gerne einen aus.“ Der Kerl mit den breiten Schultern und dem Lockenkopf grinst mich dreist an.
„Nein, danke. Ich will nichts trinken. Ich muss dringend mit dem Barkeeper sprechen.“ Er lacht, aber es klingt ein wenig, als würde er mich auslachen.
„Hey, Cole! Hier ist eine, die will ganz dringend zu dir, aber ich kann dir nicht versprechen, dass die Braut schon volljährig ist, so klein wie die mir grad vorkommt.“ Der breitschultrige Kerl sieht auf mich herab, während er mit irgendeinem Typen hinter der Bar redet.
„Du redest wieder Bullshit, Marty. Soll ich dich echt noch mal auf die Kein-Alk-Liste setzen, hm?“ Eine tiefe Männerstimme bietet dem Kerl neben mir Paroli. Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Stimme gehört zu haben, die weich, heiser, bedrohlich und amüsiert zugleich klingt.
Als hinter diesem Marty der Mann, dem diese Stimme gehört, auftaucht und mich entdeckt, bleibt mir beinahe das Herz stehen.
Meine Erfahrungen mit Männern sind bestenfalls bescheiden, aber selbst ich erkenne, wenn ein äußerst gelungenes Exemplar der Gattung Heiß-und-Sexy vor mir steht und mich irritiert angrinst. Meine Augen wissen nicht, wo sie bei ihm zuerst hinsehen sollen. Der Kerl hat sonnengebräunte Haut, einen südländischen Touch, ist mittelgroß und ziemlich durchtrainiert. Er trägt das Haar kurz geschoren, als würden ihn die Marines jeden Augenblick zum Dienst einziehen, und es verführt einen, herauszufinden, ob man diese kurzen Stoppeln tatsächlich auf seinen Fingerspitzen spürt, wenn man ihm sanft über den Kopf streicht. Seine Nase ist markant, aber stimmig, und die Kieferpartie ausgeprägt und männlich. Seine Augen sind so dunkel und tief, dass man Angst hat, wenn man hineinsieht, könnte man verschluckt werden.
Als mir dämmert, dass ich ihn anstarre, räuspere ich mich.
„Hi“, ist alles, was aus meinem Mund kommt. Der Kerl sieht mich an, als hätte ich einen Hirnschaden, und ich kann es ihm nicht mal verdenken. Eingeschüchtert versuche ich, ihn offen anzulächeln. Er fixiert mich mit gerunzelter Stirn.
„Soll das irgendein Witz sein?“ Anklagend sieht er zu diesem Marty, dann wieder zu mir. Ich möchte im Erdboden versinken.
„Kleine, bist du überhaupt alt genug, um hier zu sein?“
Nachsichtig sieht er mich an und schnaubt kopfschüttelnd.
„Ich bin einundzwanzig.“ Und ich klinge gerade wie eine beleidigte Vierzehnjährige. Super! Belustigt sieht er mir in die Augen. Herrgott, ich kann ihm nicht in die Augen sehen. Wilde Schmetterlinge flattern in meinem Bauch herum, wenn ich es tue.
„Hast du auch einen Ausweis, der das beweisen kann? Und ich will jetzt keine von Trudy Gertruds miesen Fälschungen auf meinem Tresen sehen. Ist das klar, Kleine?“ Streng sieht er mich an. Ich nicke automatisch, obwohl ich keine Ahnung habe, wer diese Trudy überhaupt ist.
Während ich in meiner Tasche nach einem Ausweis krame, strecke ich mich etwas, um größer zu erscheinen, obwohl ich mir reichlich blöd dabei vorkomme. Endlich finde ich das verdammte Ding und halte es ihm mit zitternden Fingern vor die Nase. Er schnappt ihn sich und beäugt ihn kritisch.
„Lilly Blaze aus Manhattan, New York. Du bist tatsächlich einundzwanzig. Hätte dich höchstens auf achtzehn geschätzt … Moment mal … Blaze? Bist du mit Bill verwandt?“ Er gibt mir den Ausweis zurück und sieht mich an, als suche er nach Ähnlichkeiten zwischen mir und meinem Onkel, doch er wird keine finden. Ich bin Moms Ebenbild und sie und Bill sahen sich nicht besonders ähnlich.
„Ja, ich bin seine Nichte.“ Dann fällt es mir wieder ein. „Nein, eigentlich … war ich das.“ Ein betroffener Ausdruck huscht über das Gesicht des jungen Mannes, den er schnell wieder in den Griff bekommt. Ich beschließe, noch mal von vorn anzufangen.
„Hi. Ich bin Lilly Blaze, Bills Nichte aus New York. Und du bist … Cole, richtig?“ Lächelnd strecke ich ihm die Hand hin. Er nimmt sie in seine, und ich bemühe mich, zu ignorieren, wie warm und stark sie sich anfühlt, ehe er sie wieder wegzieht.
„Cole Cortez. Ich bin der Barmann und …“
„Hey, Cole, was ist mit unseren Drinks!“ Cole sieht zur Seite, wo eine Meute junger Typen in meinem Alter ungeduldig werden.
„Gleich! Ich muss hier kurz noch was klären. Okay?“ Es klingt wie eine höfliche Frage, aber wenn man seinen Blick dabei sieht, weiß man, dass der Kerl nicht noch mal nach seinem Drink fragen wird, bis Cole so weit ist, ihm einen zu geben. Der Mann weiß, wie man Leute einschüchtert. Inklusive meiner Wenigkeit.
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