„Ja, bitte.“ Ich stoße Luft aus meinen Lungen und setze mich auf, um mich zu konzentrieren und um zu hören, was Onkel Bill in seinen letzten Worten zu sagen hatte.
James räuspert sich und liest den handgeschriebenen Zettel vor, auf dem „Letzter Wille und Testament“ steht.
„ Meine liebste Lilly! Du weißt, dass du immer meine Lieblingsnichte warst, und das nicht nur, weil du auch meine einzige bist. Deshalb habe ich mein bisheriges Testament geändert, als wir Lauren verloren haben. Auf deinen Versager von Vater verlasse ich mich keinen Deut, wenn es darum geht, Vorkehrungen für dich zu treffen. Deshalb, Herzblatt, nehme ich das lieber selbst in die Hand, so gut ich kann. Geld habe ich leider nicht viel, und was ich habe, wird dir nicht weiterhelfen. Doch ich habe eine Sache, die mir neben deiner Mutter und dir alles bedeutet hat: meine Bar. Sie ist nicht gerade eine Goldgrube. Doch sie ist ein Zuhause und ein Ort, der für dich sorgt, wenn du dich gut um ihn kümmerst. Ich weiß, du bist noch sehr jung und du solltest eigentlich das College beenden, jetzt, wo du nicht länger für deine Mom sorgen musst. Aber das Geld, das dafür nötig wäre, kann ich dir leider nicht hinterlassen. Und das tut mir sehr leid. Doch dass ich dir sehr wahrscheinlich sehr bald irgendetwas hinterlassen muss, ist mir klar. Denn mein Arzt meint, ich habe Herzwände, die dünn wie Papier sind, und ich werde auf keinen Fall noch Jahre vor mir haben, nicht mal annähernd. Ich weiß, das ist unfair, es erst jetzt zu erfahren. Doch ich wollte euch beide nicht damit belasten. Lauren brauchte jede Kraft, um gegen den Krebs zu kämpfen, und du hattest für eine junge Frau bereits genug eigene Sorgen. Doch der marode Zustand meines Herzens hat auch sein Gutes. Ich muss mich auf meinen Arsch setzen und dieses Ding hier schreiben, ehe es zu spät ist. Diese Sache ist mir wichtig. So wie du, mein Herzblatt. Und um dir das zu zeigen, hinterlasse ich dir das Einzige im Leben, was ich jemals gut hinbekommen habe, meine Bar: Bill’s Blaze. Da meine Pumpe wenigstens so lange durchhalten sollte, bis du einundzwanzig bist, darfst du die Bar führen und meine Alkoholschanklizenz geht auf dich über. Das hat unser Anwalt bereits geklärt. Lilly, ich weiß, das ist nicht der Weg, den dein Leben verlaufen sollte, aber es ist alles, was ich dir geben kann: ein Ort zum Arbeiten und Leben, der hoffentlich so gut für dich sorgt, wie er für mich gesorgt hat. Du kannst die Bar auch verkaufen und mit dem Geld eine Weile über die Runden kommen, aber ich würde mir wünschen, dass du es zumindest versuchst. Denn die Bar ist mehr als bloß ein Gebäude, dessen Besitzurkunde du von mir erbst. Sie ist ein Zuhause, ein hoffentlich sicherer Hafen für dich, um nach allem, was du durchstehen musstest, wieder auf die Füße zu kommen. Denk immer daran!
Tja, das war’s. Wenn mein Herz durchhält, lebst du bald bei mir, und ich kann dir alles, was hier drin steht, nach und nach schonend beibringen. Doch sollte meine Pumpe früher aufgeben, dann bleibt mir nur das, um dir zu sagen, dass ich dich sehr liebe und hoffe, dass du im Leben glücklich wirst. Das wünschen Lauren und ich dir am meisten. Kämpfe dafür und mach nicht dieselben Fehler wie wir. Ja, ich weiß, es ist abgedroschen, aber ich muss das sagen: Leb wohl und achte gut auf dich!“
James blickt auf und sieht mich an, während ich die Trockenheit im Mund runterschlucke, um etwas zu sagen.
„Ich … ich besitze jetzt eine Bar?“
„Das tust du.“
Je näher der Zug den Hamptons kommt und je weiter ich New York hinter mir lasse, desto unwirklicher fühlt es sich an, auf dem Weg nach Long Island zu sein, um Onkel Bills Bar Bill’s Blaze zu meinem neuen Zuhause zu machen. Der Anblick dieser hübschen Küstenstädtchen erinnert mich an die Sommer, die wir in den Hamptons verbracht haben, als es Mom gut ging und ich noch einen Vater hatte, von dem ich dachte, wir würden ihm wirklich etwas bedeuten. Doch bereits damals, als ich klein war, fühlte ich mich am wohlsten, wenn Mom aus dem teuren Strandhaus ausbüxte, um mit mir Onkel Bill zu besuchen. Dad hasste Bill und nannte ihn einen Versager, aber Mom liebte ihren Bruder und brachte mich so oft zu ihm, wie sie nur konnte. Ich erinnere mich kaum an die Bar, dafür aber an den Strand und an den Spaß, den ich mit Mom und Bill dort hatte. Dad hat nie Sandburgen mit mir gebaut oder sich für mich zum Affen gemacht. Onkel Bill tat das ständig. Während Dad wieder einmal massig Geld verdiente, setzte Bill sich Eimer auf den Kopf und spielte Seemonster mit mir oder er grillte für Mom und mich, ehe wir in unser eigentliches Leben zurückkehrten. Ich war immer traurig, wenn wir nicht zu Onkel Bill durften.
Dennoch, trotz all der guten Erinnerungen bekomme ich einen flauen Magen, wenn ich daran denke, dass ich bald aussteigen muss. Als die automatische Ansage „Westhampton“ monoton durchgibt, schlucke ich. Nur mit einer unförmigen Tragetasche und einer Handtasche als Begleitung stehe ich auf und verlasse den Zug. Zum ersten Mal seit langer Zeit rieche ich statt der abgestandenen, warmen Luft Manhattans würzig klare Landluft mit einer leichten Meeresbrise. Ich muss zugeben, dass ich froh bin, die Enge der Stadt nicht mehr zu spüren, auch wenn es schwer war, unser Zuhause an der Upper Eastside zu verlieren. Zumindest fühle ich mich erleichtert, nicht mehr in einer halb leeren Wohnung zu sein, in der mich alles an Mom erinnert und an den Kampf, den wir beide verloren haben.
Ich denke an Mom, als ich die Tasche zurechtrücke, um den Bahnsteig zu verlassen und nach dem richtigen Bus zu suchen, der mich nach Sea Creek bringt, und daran, was sie zu mir gesagt hat, als wir uns das letzte Mal sahen, bevor es ihr richtig schlecht ging: „Liebling, mach nicht die gleichen Fehler, die ich gemacht habe. Mach dir nichts im Leben vor! Such etwas Echtes, und hab den Mut, etwas Falsches sein zu lassen, auch wenn es dir vielleicht richtig vorkommt oder leichter ist, als an etwas Echtem festzuhalten. Du musst herausfinden, wer du bist, und jemanden finden, der das gut findet und der mit dir zusammen echt ist. Würdest du das für mich tun?“
Natürlich habe ich gesagt, dass ich das tun werde, obwohl ich nicht mal genau weiß, was das ist. Ich hätte zu absolut allem ja gesagt, was sie von mir verlangt hätte. Mein Magen presst sich zu einem harten Klumpen zusammen. Ich darf nicht an Mom denken, sonst heule ich am Ende nur. Dabei füllte ich die letzten Tage mit Ablenkungen und Vorbereitungen, sodass ich zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit nicht zum Heulen gekommen bin. Deswegen setze ich eine entschlossene Miene auf und konzentriere mich auf das, was zu tun ist. Finde den richtigen Bus, steig ein und eröffne diese Bar!
Wie?
Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass das alles ist, was ich zu tun habe. Alles, was im Augenblick zählt.
In dem gut herausgeputzten Ort scheint am späten Nachmittag kaum etwas los zu sein. Denn immerhin stehe ich allein auf der Bushaltestelle und steige auch als Einzige in den spärlich besetzten Bus ein.
„Sie fahren doch nach Sea Creek?“
„Ja.“ Der Fahrer mustert mich kurz, während ich ihm das Fahrgeld hinstrecke. „Sie sind aus der Stadt.“
Es ist keine Frage. Ich sehe an mir hinab und habe keine Ahnung, woran er das erkannt hat. Ich trage Loafers, eine Leinenhose, weil es für April bereits recht warm ist, ein rosa Sweatshirt und darüber einen leichten Seidenblouson.
„Ja, aus New York“, antworte ich dennoch und fühle mich ein wenig unwohl dabei. Seine Stirn legt sich in Falten.
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