„Was tust du? Konfektion?“
„Na ja, weeßte nich, wat Konfektion is? Ick denke imma, du weeßt allens! Denn näh ick Kindermäntel. Erst ha ick jedacht, ick näh Wäsche. Aber Wäsche ist mir zu poplig mit all die Knopflöcher und Spitzen an die weißen Hosen und Rüschen und Falten – det is nischt for mir. Bei mir muss allet fix jehen. Ick nähe Kindermäntel.“
„Ja, kannst du das denn auch?“
Sie warf ihre hellen Haare in den Nacken und lachte, lachte übermütig und siegesgewiß. „Du olla Dussel du! Und du willst wat Jroßes werden? Du willst janz Berlin erobern? Ja, kannste denn det? Haste det jelernt? Na, wenn du's noch nich kannst, denn lernste det. So schlau wie die anderen sind wir doch allemal! Oder nich –?“
„Doch!“ musste Karl Siebrecht zugeben. „Aber wirst du auch Arbeit kriegen?“
„Natürlich! Ick weeß schon 'ne Firma in de Jerusalemer, die nehmen mir jleich. Die machen det ohne Zwischenmeista, da vadiene ick noch extra wat bei. Jott, Karl, wenn ick erst meine Maschine habe, det soll ein Leben hier werden! Und immer bei Tilda'n – Tilda jar nich mehr alleene.“
Der alte Busch hatte schon eine ganze Weile am Fenster sachte vor sich hingebrummt und gemurrt, sie hatten im Eifer ihrer Unterhaltung aber nicht auf ihn geachtet. Jetzt schlug er mit der Hand zornig gegen die Fensterscheibe, dass sie klirrte. Rieke Busch sprang auf. „Ja doch, Vata! Kriegst noch eenen. Sei bloß ruhig, du erschreckst ja det Kind! – So, siehste, Vata! Und trink schön langsam, noch eenen jibt es heute abend nich.“
„Karl“, sagte sie dann und setzte sich wieder zum Jungen. „Kommste mit, wenn ich die Nähmaschine koofe?“
„Aber ich verstehe nichts von Nähmaschinen!“
„Doch nicht darum, Mensch! Bloß, weil ick so kleen bin! Weil ick se doch uff Abzahlung haben will! Du bist doch schon älter, und denn kannste jebildet reden. Wir machen denen einfach 'nen Schmus vor, det Mutta krank is und nich selba kommen kann.“
„Was kostet denn so 'ne Maschine?“
„Die, die ick möchte, zweihundertsechzig. Hundert Anzahlung, die ha ick nächste Woche zusammen, und der Rest alle Woche fünf Märker.“
„Das dauert ja endlos, Rieke!“
„Zweiunddreißig Wochen – det is nich sehr lange, Karl!“
„Weißt du, Rieke, nehmen wir das Geld doch einfach von meinem Sparbuch! Dass wir die Leute da ankohlen sollen, das möchte ich nicht. Du kannst es dann ja alle Woche auf mein Sparbuch zurückzahlen.“
„Det jibt et aba nich! Wat du dir bloß ausdenkst! Det is ja nich dein Geld, vastehste? Wa haben ausjemacht, daran jehn wa nur in de höchste Not. Biste jetzt in Not, Karl?“
„Das nicht. Aber ich möchte wirklich nicht gern ...“
„Ach, du mit dein feinet Jetue! Wollen wa denn die Leute rinlegen? Die sollen doch ihr Jeld kriegen, uff die Stunde kriegen se's! Det is doch bloß, weil ick noch so aasig jung bin! Na, Karl, zieh keenen Flunsch – willste oder willste nich?“
„Ich will schon.“
„Det is schön von dir, Karl, det freut mir. Du bist een richtiger Freund durch dick und dünn, so wat ha ick mir imma jewünscht. Ach, Karl, ick freu mir so! Komm, Karl, wollen wa eenen scherbeln?“ Und sie summte, sich vor ihm drehend, den Rock hob sie mit gespreizten Fingern: „Kumm, Karlinecken, kumm, kumm, kumm in meine jriene Laube. Ach nee, so jeht det nich. Wie jeht denn det, Karl? Wat stehste denn da und starrst mir an wie Muffi? Ha ick wat an mir?“
Ja, da stand er wie ein Stock und starrte sie an. Plötzlich war es ihm aufgegangen, wie hübsch seine kleine Freundin war, leuchtend von Leben, strahlend von Hoffnung. Er starrte sie an und begriff den Bäcker Ernst Bremer besser, dieser Bengel hatte einen Blick für hübsche Mädchen! Rieke Busch war schon jetzt ein verteufelt hübsches Mädchen, und sie würde noch zehnmal hübscher werden. Aber er wollte auf sie aufpassen, er wollte ihr ein rechter Bruder sein, ihr sollte kein Leid geschehen. Für solche wie den Bäcker war Rieke Busch nicht gewachsen. Und Karl Siebrecht zwang sich zu einer ernsten Miene, er sagte so steif wie der Rektor Tietböhl: „Ich glaube, Rieke, du hast deine Schularbeiten noch gar nicht gemacht, und es ist schon nach neun Uhr!“
„Ach, die ollen Schularbeeten!“ sagte Rieke und schob die Unterlippe verächtlich vor.
„Und morgen hast du auch Konfirmanden-Unterricht, kannst du denn deine Sprüche schon?“
„Ach, die ollen Sprüche! Wat ick mir for Sprüche schon koofe!“
„Los, Rieke!“ befahl er. „Hol deine Hefte und dein Neues Testament.“
Sie sah ihn von der Seite an und brach in Lachen aus. „Jott, Karl, du jefällst mir!“ rief sie. „Jenau wie Lehrer Jalle siehst du jetzt aus.“
„Wir haben ausgemacht, Rieke, dass du regelmäßig und ordentlich deine Schularbeiten machst.“
„Ja doch, Karl! Bloß, et hilft nischt.“
„Natürlich hilft es.“
„I wo! Ick bin dumm jeboren, und ick lerne ooch nischt zu.“
„Du weißt ganz genau, dass du nicht dumm bist.“
„Ja, allens wat ick for meine Arbeet brauche, det lerne ick sofort, aber die ollen Bucha –! Karl, schämste dir nich manchmal, det ick so unjebildet bin?“
„Du bist meine kleine Schwester, und ich werde schon dafür sorgen, dass du nicht lange mehr ungebildet bist“, sagte er stolz.
„Bin ick det, Karl? Bin ick deine Schwesta?“ rief sie und lief auf ihn zu. „Det is jroßartig von dir, darauf jibst de mir 'nen Kuß!“ Sie legte die Arme um seinen Hals. „Na, 'nen richtigen, 'nen richtigen süßen ... Mach die Oogen zu und denk, ick bin deine Ria –!“
„Das darfst du nicht sagen, Rieke. Das schickt sich nicht! Du bist meine Schwester.“
„Na, det weeß ick doch, du olla feina Hammel! Det ick nich deine Jeliebte bin, det weeß ick. So liebste mir nich, nich uff die Art! Aber desterwejen kannste mir doch 'nen richtigen Kuß jeben, nich so wie een Stockfisch. Det hat mir schon imma jefehlt, det mir mal eena streichelt. Mit die olle Knutscherei habe ick jar nischt im Sinn. Also, Karl, nu mal los, nimm mir mal richtig in deine Arme ...“
Und Karl legte seine Arme um ihre zarte, ach, so zarte Gestalt, er näherte seinen Mund ihrem ihm entgegengehobenen Kindermund –
– und er fühlte sich losgerissen von ihr, er taumelte rücklings durch die Küche, schlug gegen den Herd und fiel schwer zu Boden ... Da aber, wo er gestanden hatte, stand jetzt der alte Busch, schwer atmend, seine Lippen bewegten sich. Er sprudelte undeutliche wilde Laute hervor, die Arme pendelten, als wollten sie sofort losschlagen ... Und da stand Rieke, schneeweiß ...
Ehe sich aber Karl Siebrecht aus seinem Sturz hatte aufraffen und ihr zu Hilfe eilen können, hatte sich Rieke schon gefaßt. „Wat fällt denn dir ein, Vata?!“ rief sie und hatte die Arme in die Seiten gestemmt, in der typischen Keifstellung so vieler Berliner Weiber, die sie ganz unbewußt übernommen hatte. „Du bist wohl janz verrückt jeworden! Kiek eena den an: nu wird er plötzlich eifersüchtig! Det jibt et bei mir aba nich, vastehste! Nimmste sofort die Arme runter, Vata! Wenn det so is, wenn der Schnaps so uff dir wirkt, denn jibt et jarkeenen mehr, vastanden?!“ Sie beruhigte sich. Sie besann sich. „Haste dir wat jetan, Karl? Nee? Nich? Na, is man jut. Vata meent et nich so.“ Und wieder zum Vata: „Wat machste bloß for Zicken, Vata? So wat musste nich wieda machen, da kannste mir wild mit machen! Det is mein Bruda, der Karl, vastehste det? Da haste jar nicht eifersüchtig zu sind!“ Sie nahm den Vater bei der Hand und führte ihn wieder zu seinem Stuhl am Fenster. „Na, nun beruhige dir man“, sagte sie sanft. „Hast wat Schlechtet jeträumt, Vata? Is allens nich wahr, ick bin deine Beste. Rieke is deine Beste, wat, Vata?“ Sie saß wieder auf des Vaters Schoß, die Arme um seinen Hals. Zu Karl Siebrecht sagte sie: „Jeh man schlafen, Karl. Det hat heute abend doch keenen Zweck mehr. Man muss sich ebend nich zu doll freuen, denn jeht's imma schief! Hau dir in de Mulle, Karl. Und ich mach meine Schularbeeten noch, ick vaspreche dir's, Karl, darauf kannste dir verlassen! Du sollst 'ne jebildete Schwesta kriegen! Jute Nacht, Karl!“
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