Der ANZAC-Tag wurde am 25. April begangen, also genau am Tage meiner Operation, mir war folglich nicht zum Feiern zumute. ANZAC steht für Australisches und Neuseeländisches Armee Corp. Der Begriff ist nicht neu, ich habe ihn bestimmt schon einmal während des Krieges erwähnt. Vater hat auch geschrieben, er ist schon in Perth. Mir fällt ein, dass er noch gar nichts von meinem Blinddarm weiß. Der 25. April ist jedenfalls der Tag der Gallipoli-Landung, die ja eigentlich in einer Katastrophe für unsere Soldaten endete. Dies hat aber gerade den Zusammenhalt und den großen Stolz der Nation begründet. Ich zitiere hier natürlich wieder die Presse. Vater hat in seinem Artikel etwas anderes geschrieben. In seinem Fazit bekennt er allerdings, dass er Franzose ist, und dankt abschließend den Männern des ANZACS für ihren aufopferungsvollen Einsatz.
Ich wurde heute aus dem Krankenhaus entlassen. Es hat jetzt doch etwas länger gedauert, aber ich habe mich dort ganz wohl gefühlt. Ich habe viel gelesen. Tom hat mir fast jeden Tag etwas aus der Bücherei mitgebracht und dann sind da ja noch die Zeitungen. Ich werde heute wieder in meinem eigenen Bett schlafen und darauf freue ich mich schon. Auf die Dauer ist es doch sehr lästig, morgens um halb sechs geweckt zu werden und wenn die Schwester kommt, um Fieber zu messen und das Bett zu machen.
Ich bin sehr stolz auf Tom. Er bekommt weiterhin gute Noten. Ein Elternsprechtag steht erst im September an, aber auch dann werde ich wohl nichts anderes zu hören bekommen, als es die Zensuren jetzt schon sagen. Tom liebt Physik, Chemie und die Mathematik. Er interessiert sich jetzt nicht mehr nur für Automobile, sondern auch für Eisenbahnen, für die Dampflokomotiven. In seiner Schule gibt es eine Bibliothek und er hat sich Bücher über Dampflokomotiven mit nach Hause genommen. Ich muss mir alles anhören, was er sich erliest. Tom erklärt mir dann die Kraft des Dampfes oder erzählt mir etwas über Schwungräder.
Ich habe mir heute meine Narbe betrachtet, sie ist schon ganz blass. Der Arzt sagt, es würde nur eine feine Linie bleiben, er sei dafür Spezialist. Ich werde es sehen, obwohl sie mich nicht stört, wer sollte mich denn sehen, ich müsste schon halbnackt auf die Straße gehen. Tom ist allerdings ganz neidisch auf die Narbe. Er hätte auch gerne eine, am besten auf der Stirn oder am Arm. Ich habe gleich gedacht, dass er seine eigenen Narben noch früh genug bekommen wird.
Die Zeitungen schreiben von der Sommerromanze des letzten Jahres, die jetzt in einer Sommerhochzeit mündete. Die Familie Altsmith gibt bekannt, dass ihr Spross John B. Altsmith die Ehe eingeht, mit einer Patricia Soundso, ich habe den Namen vergessen und keine Lust ihn noch einmal nachzuschlagen. Patricia und John B. haben also geheiratet. Auch wenn ich ihren Nachnamen vergessen habe, so habe ich doch die Geschichte ihrer Liebe nicht vergessen, es wurde ja alles in den Zeitungen ausführlich beschrieben. Patricia ist Krankenschwester, also kein Mädchen aus reichem Hause. Sie hat aber den Mut besessen, die Altsmiths um eine Spende für ein neues Krankenhaus in Newcastle zu bitten. Da John B. seit einigen Jahren in Newcastle residiert, haben sich die beiden getroffen und lieben gelernt. Ich weiß nicht, wie John B. sich bei seiner Familie durchgesetzt hat, wie er diesen Standesunterschied durchgesetzt hat. Plötzlich zweifle ich daran, dass er mich damals abgewiesen hat, weil ich seiner Familie nicht fein genug war. Vielleicht hatte ich aber auch nur Pech und bin dem unreifen John B. begegnet, der sich noch von seiner Familie lenken ließ. In den Jahren in Newcastle ist er eben zu einem richtigen Mann geworden. Ich habe ihn wohl zu früh kennengelernt, obwohl ich doch jetzt ganz froh bin, dass es so gekommen ist. Ich wünsche den Eheleuten viel Glück und hoffe, dass sich Patricia in dieser Familie wohlfühlt, ich könnte es nicht, damals nicht und heute bestimmt auch nicht.
Ich habe die monatlichen Zahlungen aus Toms Stipendium heute einmal zusammengerechnet. Das Schulgeld wird ja direkt nach Lutwyche überwiesen. Wir bekommen aber auch noch eine weitere Unterstützung. Die Schuluniform wird vollständig bezahlt, ich brauche die Rechnungen nur einzureichen. Neben Hose und Jacke gehören auch die Schuhe zur Uniform, was sehr praktisch ist, denn Tom trägt seine Schuhe ja auch außerhalb der Schule. Dann bekomme ich im Halbjahr noch zwanzig Pfund für sonstige Ausgaben. Dieses Geld spare ich für Tom, denn was er sonst noch so braucht, bezahle ich natürlich.
Vater hat viel von Australien gesehen, er hat immer nach einem Ort gesucht, an dem er leben möchte, bleiben möchte. Hatfields Beach ist jetzt sein Zuhause und ich überlege, wie es wäre, wenn Tom und ich auch dorthin ziehen würden. Es ist nur ein Gedanke, den ich aber nicht zum ersten Mal habe. Tom hat seine Schule hier in Brisbane, sein Stipendium, und er hat seine Freunde und auch ich habe meine Freunde hier. Als ich mich damals von Jack getrennt habe, wäre es beinahe soweit gewesen, damals wäre der Zeitpunkt günstig gewesen, heute ist mir aber manchmal das Herz schwerer als damals.
Brisbane, 10. August 1923
Es hat mir keine Ruhe gelassen. Es ist immer so, wenn mir etwas durch den Kopf geht. Ich habe Vater einen Brief geschrieben, ihn wieder einmal um Rat gefragt. Eigentlich habe ich mir verboten, über einen Umzug nach Hatfields Beach nachzudenken. Tom ist so glücklich und erfolgreich in seiner neuen Schule. Vater soll mir jetzt sagen, was ich tun soll.
Brisbane, 8. September 1923
Ich bin an einen sehr gewissenhaften Französischlehrer geraten. Er arbeitet hier in Brisbane an einer der Privatschulen. Er bereitet gerade den neuen Unterricht vor und ich soll alles noch einmal durchsehen. Der Mann ist kein Franzose, war niemals in Frankreich, nur einmal in Indochina. Er spricht sehr gut Französisch und auch das, was ich für ihn durchgesehen habe, war fast schon perfekt. Für seine Schüler hätte es auch ohne meine Korrekturen gereicht. Es war somit leicht verdientes Geld, weil wir vorher ein festes Honorar ausgemacht hatten und ich ja am Ende gar nicht viel zu tun hatte.
Brisbane, 2. Oktober 1923
Ich war heute Nachmittag auf Toms Schule. Ich habe mit dem Direktor gesprochen. Innerhalb Brisbanes, ja sogar innerhalb Queensland könnte Tom die Schule wechseln und dabei sein Stipendium behalten, das ist schon einmal sicher. Wie es dagegen aussieht, wenn wir das Land verlassen, konnte er mir nicht sagen. Der Direktor fragte mich, ob wir daran denken, nach Frankreich zurückzugehen. Ein merkwürdiger Gedanke. Ich erzählte ihm dann, dass Vater in Neuseeland lebt. Er will sich jetzt für mich erkundigen, immerhin gehören Australien und Neuseeland zum Commonwealth. Ich verstehe noch nicht, was dies bedeutet. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass Tom Brite und nicht einfach nur Australier ist.
Brisbane, 23. Oktober 1923
Tom und ich waren endlich einmal auf dem Güterbahnhof. Keith und Paul haben uns begleitet. Keith Vater kennt einen der Betriebsleiter und so durften die Jungen auf einer Lokomotive fahren, mit der Wagons rangiert werden. Ich hatte es mir zwischenzeitlich in der Bahnhofskantine bei einem Kaffee gemütlich gemacht. Die Lokomotive ist mehrmals an den Fenstern der Kantine vorübergefahren. Paul und Keith haben jedes Mal gewunken, wenn sie mich gesehen haben. Tom dagegen war hochkonzentriert. Er durfte irgendwelche Hebel bedienen und Instrumente ablesen. Er hat außer der Lokomotive nichts um sich herum gesehen. Nur bei der letzten Fahrt stand er vorne an dem Guckfenster und hat an einer Leine gezogen, woraufhin ein Pfeifton erklang und dann hat auch er zu mir herübergesehen und gewunken. Das Pfeifen galt mir.
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