Ich bin Anfang Juni das erste Mal gebeten worden, einen Brief, einen privaten Brief zu übersetzen. Eine Dame kam zu mir. Sie hatte irgendwo gehört, dass ich Portugiesisch übersetze. Das Interessante, sie war selbst gebürtige Portugiesin, lebt aber seit dreißig Jahren hier in Australien. Ihre Eltern sind früh gestorben und sie hatte ihre Muttersprache wieder völlig vergessen. Es war ihr zu peinlich, sich an ihre Landsleute zu wenden und so ist sie zu mir gekommen. Sie wollte an Verwandte in Portugal schreiben. Ich habe es dann gemacht und es war einmal etwas anderes. Auf jeden Fall hat es sich wohl herumgesprochen, dass ich solche Übersetzungen mache und so hatte ich bestimmt in den letzten Wochen zwei Dutzend solcher Aufträge. Ich musste Briefe schreiben und auch welche aus Portugal übersetzen. Ich kann dafür nicht das gleiche Honorar verlangen, wie bei meinen geschäftlichen Kunden, aber dafür fällt mir die Arbeit auch leichter.
Heute haben Tom und ich vor einem Atlas gesessen und uns die Inseln angeschaut, ihre Lage und ihre unvorstellbare Entfernung von Australien und von Brisbane. Ich hatte mir schon viel früher vorgenommen, Tom von Onoo, von seinem Vater zu erzählen. Tom ist jetzt fünf Jahre alt. Ich habe ihm die Wahrheit gesagt, über Onoo und mich. Ich habe auch gesagt, dass es meine Schuld sei, denn sein Vater wüsste nichts von ihm und es sei sogar meine große Schuld, es ihm nie gesagt zu haben. Tom hat alles verstanden. Ich habe auch gedacht, dass wir gemeinsam einen Brief an Onoo schreiben, denn ich finde es wichtig. Tom muss seinen Vater kennenlernen. Dann hat Tom aber gesagt, dass sein Vater doch spüren müsse, dass es ihn gibt und wenn er bislang noch nichts gespürt hat, so müssen wir warten, bis er es endlich spürt und von selbst zu uns kommt. Tom will auf seinen Vater warten. Ich habe nichts mehr dazu gesagt. Wir müssen Onoo irgendwann einen Brief schreiben. Ich habe es jetzt wieder aufgeschoben und weiß nicht, ob es richtig ist.
Seit einigen Tagen wird bei der Eisenbahn in New South Wales gestreikt. Vater ist in Sydney. Ich weiß noch nicht, ob er dort bleibt, um über die Streiks zu berichten, oder ob er keinen Zug nach Hause bekommt. Die Post soll jetzt sogar mit dem Schiff zwischen Brisbane und Sydney transportiert werden. Vater muss eben auch das Schiff nehmen. Ich werde es ihm schreiben.
Brisbane, 21. August 1917
Die Stahlwerke, die Schuh- und Kleiderfabriken und selbstverständlich auch die Eisenbahn und vieles mehr sind von den Streiks betroffen. Der Courier berichtet fast täglich und es ist nicht nur Vater, der seine Artikel schreibt. Es gibt zwei Lager. Die einen sagen, der Krieg verlange Höchstleistungen von jedem, der in der Heimat geblieben ist. Dies gilt besonders für die Arbeiter in den Fabriken. Das andere Lager sieht nicht den Krieg als Grund für die Erhöhung der Arbeitsstandards und so seien die Streikenden im Recht und keineswegs unpatriotisch. Es ist aber anscheinend unwichtig, wer im Recht oder im Unrecht ist, der Streik schließt das ganze Land ein, von Queensland und den anderen Ostterritorien bis in den Westen, bis nach Perth, vom Norden bis in den Süden und selbst bis auf die tasmanische Insel. Nachdem zunächst nur wenige Eisenbahner gestreikt haben, sollen es jetzt schon an die hunderttausend sein.
Brisbane, 1. September 1917
Ich bin sehr stolz, dass Tom jetzt schon in der Zeitung lesen kann. Es ist noch etwas holprig, wenn er Vater oder mir laut vorliest, aber er bekommt jedes Wort hin. Er fragt dann immer was dies oder jenes bedeutet und vieles weiß ich selbst nicht, oder ich tue mich schwer, die politischen Dinge zu erklären. Dann muss Vater uns beiden helfen. Am liebsten lesen wir aber, was auf dem Lande vorgefallen ist, wenn es irgendwo gebrannt hat und die Feuerwehr konnte es löschen oder wenn bei einer Zuchtausstellung ein Preis für den schwersten Bullen vergeben wurde. Einmal hat Mrs. Lovegrove ihre Brille vergessen und Tom hat ihr vorgelesen. Jetzt tut sie immer so, als hätte sie die Brille nicht dabei und Tom ist dann ganz eifrig mit der Zeitung. Ich überlege mir, Tom auch einmal ein richtiges Buch zum Lesen zu geben.
Brisbane, 12. September 1917
Es kehrt nun doch wohl Ruhe ein. Als Erstes nehmen die Eisenbahnen ihren Betrieb wieder auf. Vater hat bereits einen Zug nach Sydney bestiegen, um die Ereignisse, die in New South Wales ihren Ausgang genommen haben, noch einmal zu recherchieren. Wenn so ein Streik beendet wird, dann kehrt sehr schnell wieder Normalität ein, wie es im Land jetzt festzustellen ist.
Brisbane, 20. September 1917
Ich habe den Ehrgeiz, dass Tom zu seiner Einschulung nicht nur lesen kann, sondern auch schon das Einmaleins beherrscht. Wir sind jetzt bei der Sechs und wir haben erst letzte Woche angefangen. Tom soll es natürlich nicht auswendig lernen, sondern richtig rechnen, was sich aber erst bei den Zahlen über zehn erweisen wird. Dann möchte ich noch, dass er seine Heimat kennenlernt. Wir haben uns eine Karte von Australien genommen. Ich decke die Städtenamen ab und Tom muss zeigen, wo Sydney oder Perth oder gar Darwin liegt. Bei diesem Spiel ist Tom besonders gut und es macht ihm auch die größte Freude. Er sitzt oft lange über der Karte und schaut sich alles genau an. Er fragt mich dann, ob ich wüsste, wo Charleville oder Cunnamulla liegen. Ich weiß es natürlich nicht, ich habe von diesen und anderen Orten noch nie gehört. Wir schauen es uns dann gemeinsam an. Die Orte in Australiens Innerstem liegen wirklich sehr einsam.
Brisbane, 2. Oktober 1917
Mein Schlafzimmer wird mir langsam zu klein. Ich bräuchte auch noch ein Bücherregal, aber es passt nichts mehr hinein. Ich habe die meisten meiner Bücher im Wohnzimmer stehen und nehme nur die mit an meinen Schreibtisch, die ich gerade für eine Übersetzung brauche. Ich bin jetzt schon recht gut ausgestattet. In diesem Jahr habe ich wirklich viel Geld für Wörterbücher ausgegeben, aber es sind eben meine Arbeitsgeräte.
Brisbane, 19. Oktober 1917
Die französischen Bücher, die Vater oder ich im Hause haben, sind für Tom noch nicht das Richtige. Ich möchte aber, dass er nicht nur englische, sondern auch französische Texte liest. In meiner Bibliothek auf dem College habe ich mich daher nach geeigneten Büchern umgesehen. Es gibt dort vieles auch auf Französisch. Es stammt aus Spenden oder wurde von Flohmärkten aufgekauft. Ich habe ein Tom-Sawyer-Buch auf Französisch gefunden, das ganz hübsch ist, weil es auch Bilder enthält. Tom soll es versuchen. Die Geschichten werden ihm sicherlich gefallen.
Brisbane, 10. November 1917
Ich habe Post aus Argentinien bekommen. Eine Anwaltskanzlei bittet mich um Übersetzungen. Ich sei empfohlen worden, sie schreiben aber nicht von wem. Ich soll eine Korrespondenz überwachen und Briefe übersetzen. Ich habe mich gefragt, ob es dafür keine Übersetzer in Argentinien gibt. Ich werde zurückschreiben. Vater meint, ich sollte mein Honorar möglichst hoch ansetzen, dann würden wir ja sehen, was ihnen meine Mitarbeit wert ist.
Brisbane, 30. November 1917
Die Anwaltskanzlei aus Argentinien, genauer gesagt aus Neuquén, hat sich wieder gemeldet. Sie akzeptieren meine Honorarforderungen ich muss aber ein Dokument unterschreiben, in dem ich mich zum Stillschweigen über alles verpflichte, was ich zu lesen oder zu übersetzen bekomme. Ich habe das Dokument gleich unterschrieben und zurückgesendet, schließlich sind solche Vereinbarungen auch bei den Anwälten hier in Brisbane üblich. Vater und ich haben nachgesehen, wo dieses Neuquén eigentlich liegt. Wir haben es in unserem Atlas erst gar nicht gefunden. Es liegt mitten im südamerikanischen Kontinent, weit von jeder Küste entfernt.
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