„Was willst du in diesem Palast? Hier kann man nur leben, wenn man viele Diener hat. Wenn ich aber Diener brauche, dann möchte ich keinen Palast."
„Du bist töricht! Das kleinliche Denken deiner Herkunft wirst du wohl nie ablegen können! Nur Leute mit so einem Lebensstil leben wirklich. Es ist ungerecht in der Welt, dass die einen alles haben und die anderen nichts."
„Von diesem Reichtum hier hat doch niemand etwas. Die, die hier waren, sind verschwunden. Wer weiß, welch' ein schlimmes Schicksal sie ereilt hat?"
„Aber sie hatten dies alles einmal, konnten es genießen - und schon das ist ungerecht!"
Von all dem Laufen und Schauen hatten sie Hunger und Durst bekommen. Sie waren inzwischen durch verschiedene Speisesäle gekommen mit langen Tischen über denen Kristalllüster hingen. In der Nähe war jedes Mal eine Küche gewesen, die sie aber nicht näher untersucht hatten. Nun hatten sie wieder eine gefunden und traten ein. Auf erloschenen Herden standen Töpfe mit Speisen, die wohl zuerst verschimmelt und dann eingetrocknet waren. Unter kalten Essen hingen Kessel, in denen einst eine wohlschmeckende Suppe geblubbert hatte. Sie untersuchten alle Kästen und Schränke, aber die Jahre hatten nichts Essbares übriggelassen.
„Wir werden wohl auf die Vorräte in unseren Rucksäcken zurückgreifen müssen“, seufzte Marc.
Dann deutete er auf eine Öffnung in der Wand, aus der klares Wasser sprudelte und in einem Loch im Boden verschwand.
„Wenigstens zu Trinken haben wir. Komm, lass' es uns auf einem der Stühle bequem machen."
„Bist du verrückt“, rief Akandra erbost. „Ich bin die Tochter eines Grafen und soll hier in der Küche essen? Auch wenn unser Mahl kärglich ist, so werden wir doch würdig speisen."
Sie führte ihren Begleiter in das nahe gelegene Esszimmer. Dort deckte sie die Tafel mit Damast, feinem Porzellan und Kristallgläsern. Dann arrangierte sie ihre Vorräte auf silbernen Platten, zündete schließlich noch fünf Kerzen an und lud Marc mit einem bezaubernden Lächeln zum Platz nehmen ein. So tafelten sie lange und ausgiebig, lachten und hatten viel Spaß miteinander. Irgendwann neigte sich der Tag und Schatten zogen in die hohen Räume.
„Es wird dunkel“, sagte Marc. „Wir müssen aufbrechen, wenn wir in dieser Nacht die Ebene nach Osten überqueren wollen."
„Was fällt dir ein?" war die Antwort. „Wir haben doch erst einen kleinen Teil dieser Wunder hier gesehen. Wir bleiben und übernachten. Ich freue mich schon jetzt auf ein vernünftiges Bett. Wir haben schon lange nicht mehr geschlafen und müssen darauf achten, dass wir bei Kräften bleiben."
„Und unsere Mission? Bis jetzt hattest es du doch besonders eilig!"
„Mir scheint, dass dieser Palast zu unserer Mission gehört. Komm' jetzt!"
Unterwegs hatten sie irgendwo eine Öllampe gefunden. Die zündete das Mädchen an und machte sich in ihrem trüben Schein auf die Suche nach Schlafzimmern. Marc war es bei Dunkelheit unheimlich in diesem leeren Palast, aber er folgte ihr tapfer. Schließlich gelangten sie zu zwei hohen Türen, die nebeneinanderlagen.
„Dies sind gewiss Schlafzimmer“, sagte Akandra bestimmt. „Du wirst hier schlafen und ich dort."
„Wir sollen uns also trennen?" fragte der Junge ängstlich. „Dies ist gefährlich. Lass' uns zusammen schlafen!"
„Dummes Zeug! Warum sollte ich mit dir ein Zimmer teilen, wenn es nicht nötig ist?"
Die Türgriffe zu beiden Zimmer waren jeweils ein großer, sehr naturgetreu geformter Phallus. Ihn umfasste sie fest mit ihrer weißen, zarten Hand und drückte ihn nieder. Dann verschwand sie mit einem kurzen Gruß und ließ die Tür ins Schloss fallen. Marc blieb verlassen auf dem Gang zurück. Er überlegte, ob er sich nicht wie ein Hund vor ihre Schwelle kauern sollte. Dann aber fasste er sich ein Herz und betrat sein Schlafzimmer. Es war düster, doch leuchtete der Schein des abnehmenden Mondes durch das Fenster herein, so dass er sich orientieren konnte.
Auf dem Boden lagen Kleider, die jemand vor vielen Jahren fallen gelassen hatte. Marc konnte in der Dunkelheit nicht erkennen, ob sie einst einem Mann oder einer Frau gehört hatten. Er tastete sich zum Bett, das mit seinem Baldachin als riesiger Schatten vor ihm aufragte. Mühsam kroch er hinein und versank zwischen weichen Daunen und seidenen Kissen. Aus Furcht hatte er seine Kleider anbehalten und nur das Gepäck abgelegt. Noch nie hatte er in Seide geschlafen. Er hatte von diesem Material nur gehört. Schon das grobe Leinen, mit dem die Mutter die Betten in Gutruh bezog, war ihm weich und wohlig erschienen. Diese Schlafstätte schien ihm dagegen nicht von dieser Welt. Das Bett war noch in dem Zustand und der Unordnung, wie es der Schläfer vor Zeiten verlassen hatte. Wer mochte hier wohl geruht haben? Der Geruch des Körpers war inzwischen längst verflogen; dennoch versuchte Marc, sich seinen Vorgänger vorzustellen. Es gelang ihm nicht.
Je länger er regungslos in dem Himmelbett lag, desto unheimlicher wurde es dem Erit in diesem großen, dunklen Raum, in diesem fremden, leeren Palast. Ob es hier wohl Geister gab? Lange konnte er nicht einschlafen, sondern achtete auf jedes Geräusch, selbst auf seinen eigenen Atem. Irgendwann glaubte er, eine Tür ins Schloss fallen zu hören. Aber er hatte sich wahrscheinlich getäuscht. Dann wieder klangen auf dem Gang vor der Tür leise Schritte, die sich irgendwann wieder entfernten. Ängstlich kroch Marc immer tiefer unter die Decke, bis ihn endlich lange nach Mitternacht der Schlaf barmherzig von seiner Angst erlöste.
Als er lange nach Sonnenaufgang erwachte, brauchte er erst einige Zeit, bis er begriff, wo er war. Er sah sich im Zimmer um. Es war noch größer, als er es im Dunkeln vermutet hatte, größer als die meisten Salons und Schlafzimmer, die sie gestern durchstreift hatten. Ein verzierter Durchgang führte in einen angrenzenden Raum. So etwas hatte Marc noch nie gesehen. Alles war schwarz gekachelt. In den Boden war eine weite, runde Höhlung eingelassen. Sie sah aus, wie eine im Boden versenkte Wanne. Stufen führten zu ihr hinunter. In der Wanne stand ein Rest Wasser, das vor vielen Jahren eingefüllt worden war. Es war grün von Algen.
Der Erit musste Wasser lassen und machte sich auf die Suche nach der dafür vorgesehenen Einrichtung. Er fand einen gepolsterten Stuhl mit einem Deckel, unter dem sich eine Schale befand. Als er die Abdeckung hob, sah er vertrocknete Exkremente, so dass er den Stuhl rasch wieder verschloss. Weil er sich nicht länger zurückhalten konnte, schlug er sein Wasser in dem gekachelten Raum in die Wanne ab. Dann ging er nach draußen und klopfte an Akandras Tür.
Die junge Gräfin war lange vor ihrem Gefährten aufgestanden. Sie hatte ausgezeichnet geschlafen, war munter und ausgeruht. Auch sie hatte inzwischen ihr Zimmer untersucht, und dabei ein Netz von Dienergängen entdeckt, die aus jedem Raum durch eine Tapetentür betreten werden konnten. Überall hingen Kordeln und Bänder von der Decke, mit denen die Bediensteten gerufen wurden.
„Ein ausgeklügeltes System“, dachte sie und zog zur Probe an den Strippen. Doch nichts geschah.
Sie überlegte lange, wie sie sich waschen könnte. In ihrem Zimmer gab es zwar einen Waschtisch aus rotem Holz, mit goldenem Becken und goldener Kanne, aber kein Wasser. Deshalb machte sie sich auf die Suche nach der nächsten Küche. Als Marc bei ihr anklopfte, war sie nicht in ihrem Zimmer, sondern wanderte durch die Gänge. Hin und wieder öffnete sie Türen und war dabei von ihren Entdeckungen so fasziniert, dass sie ihre Toilette ganz vergaß. In der Nähe des Schlafzimmers fand sie ein rundes Gemach. Seine Wände strahlten in einem tiefen Blau. Es war ganz leer bis auf ein ebenso rundes Podest in der Mitte. Es mochte drei Handbreit hoch sein. Dort stand ein runder Tisch mit einem blauen Samtkissen. Neugierig trat Akandra näher und sah ein kleines goldenes Messerchen, das ihr ausnehmend gut gefiel. Ohne lange zu überlegen steckte sie es ein und ging zurück auf den Gang.
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