„Achtet darauf, dass ihr nicht zu viel Staub aufwirbelt“, zischte die Frau. „Wir wollen keine Spur in der Luft hinterlassen."
Sie liefen und liefen, und schließlich stolperten die Erits nur noch hinterher.
„Eine Rast“, stöhnte Akandra. „Ich brauche eine Rast, sonst falle ich um."
Die Frau blieb stehen und blickte zurück. Die Zelte waren nur noch klein in der Ferne zu erkennen.
„Wir können eine kurze Pause einlegen“, sagte sie, und alle ließen sich auf die harte ausgetrocknete Erde fallen.
Als sie etwas verschnauft hatten, begann Marc: „Nun wird es aber Zeit, dass Ihr uns aufklärt. Ihr habt uns sicher viel mitzuteilen."
„Es ist überhaupt keine Zeit für Palaver. Noch befinden wir uns im Blickfeld von Ormor, und er kann uns jederzeit von seinen Reitern einfangen lassen. Wenn ihr schon wieder Kraft habt, um Fragen zu stellen, dann können wir auch weiterlaufen."
Die Frau rannte los, und die beiden Erits mussten ihr mit müden Füßen folgen. Akandra blickte Marc böse an. Wenn sie gekonnte hätte, so hätte sie ihm einen ähnlichen Tritt verpasst, wie dem Orokòr.
„Wie weit wollt Ihr denn noch laufen?" keuchte Akandra endlich.
„Soweit es geht! Redet nicht, das kostet nur Kraft! Achtet lieber darauf, dass ihr die Tücher nicht verliert."
Gerade diese Tücher waren lästig. Die Gaze machte das Atmen schwer, und Hitze staute sich unter dem Stoff. Marc konnte nicht einsehen, weshalb sie in dieser Einöde noch unsichtbar sein mussten. Entgegen der Anweisung wollte er das Tuch abnehmen und einstecken, aber ein scharfer Befehl hielt ihn zurück.
„Hier sieht uns doch niemand“, wandte er ein. „Was soll diese unnütze Quälerei?"
„Und an die Vögel denkst du nicht?"
Endlich konnte auch ein eiserner Wille die Erits nicht mehr vorantreiben. Sie folgten nur noch stolpernd und taumelnd, und ihre strenge Führerin gestattete ihnen, sich in den Staub fallen zu lassen. Es war inzwischen später Nachmittag, die Sonne stand im Westen. Nachdem sie etwas zu Atem gekommen waren, fielen Marc und Akandra in einen Schlaf der Erschöpfung. Die Frau ließ sie gewähren und hielt Wache.
Als sie erwachten, aßen sie von ihren Vorräten, und dann konnte sich Marc nicht länger zurückhalten. Er überfiel ihre Retterin mit vielen Fragen. Er wollte wissen, wer sie sei, was es mit dem Palast auf sich habe, woher sie ihre Namen wisse, woher sie komme und all die anderen Fragen, die ihm auf dem langen Marsch durch Kopf gegangen waren.
„Wer ich bin, kann ich euch jetzt noch nicht erklären. Aber ihr könnt mich Qumara nennen. Gerettet habe ich euch mit Verschwindetüchern. Unter Eingeweihten und Weisen ist schon lange die Rede davon, dass sie in Seinem Besitz sind. Man sagt, Ormor habe sie vor vielen tausend Jahren den Achajern gestohlen. Ich wusste natürlich nicht, ob an dem Gerücht etwas Wahres ist. Mir blieb jedoch keine Wahl, deshalb habe ich sie gesucht und in seinem Zauberkabinett auch gefunden. Ohne die Tücher wären wir alle verloren gewesen. Ja, ihr habt euch im Palast des Zauberkönigs wie zu Hause gefühlt. Sein Hauptsitz ist zwar eine Burg im Norden, aber hier im Süden erholte er sich in den Sommermonaten. Als er vom Bündnis besiegt und in den Berg gebannt worden war, haben alle seine Getreuen das Schloss in Panik verlassen und sich in alle Winde zerstreut. Niemand hat es in all den Jahren gewagt, diesen Palast zu betreten. Er geriet in Vergessenheit. Doch nun ist Ormor befreit und bezieht sein altes Domizil. Von hier aus will er die Eroberung von Centratur leiten und die unterworfenen Länder regieren. Hier wird auch das Schicksal eures Heimlands entschieden werden. Man sollte es kaum glauben, dass ausgerechnet zwei junge Erits in diesen gefürchteten Bau eindringen, und einer von ihnen sogar im Bett des gewaltigen Zauberkönigs, dieser Geisel von Centratur, schläft. Was habt ihr euch dabei gedacht? Ich hoffe nur, ihr habt nicht zu viele Spuren hinterlassen, die auf eure Anwesenheit hindeuten, und ganz besonders hoffe ich, dass ihr nichts mitgenommen habt. ER würde dies nämlich bald entdecken und euch niemals verzeihen. Es ist schon gefährlich genug, dass wir die Verschwindetücher entwenden mussten."
Akandra erschrak und tiefe Röte überzog ihre Wangen. Sie erinnerte sich, dass sie an diesem Morgen allein im Zauberkabinett gewesen war und dort etwas eingesteckt hatte. Sie fasste in ihre Tasche und zog das goldene Messerchen heraus. Es blitzte, obwohl die untergehende Sonne nur noch schwach schien. Verlegen zeigte sie Qumara ihr Diebesgut.
Dieses erbleichte: „Wo hast du das her?"
„Aus dem Zauberkabinett. Ich dachte nicht, dass man es vermissen würde. Im Übrigen war der Palast verlassen, und somit gehörte das Messer doch niemand."
„Du törichtes Mädchen“, sagte die Frau, „dafür wird uns Ormor rund um den Erdball jagen. Wie wollt ihr mit dieser Last eure Mission erfüllen?"
„Dann werde ich das Messer einfach wegwerfen. Ich will es gar nicht behalten. Die Männer von Ormor werden es finden, und er wird zufrieden sein."
„Oh, heilige Einfalt! Sie werden es sicher finden, aber nicht zufrieden sein. Sondern der Zauberkönig wird uns erst recht verfolgen lassen. Du weißt nicht, was du da gestohlen hast! Unter diesen Umständen ist jetzt keine Zeit mehr für Erklärungen. Wir müssen sofort weiter. Inzwischen ist Ormor sicher in Roscio eingetroffen. Nachdem er sich erfrischt hat, wird er sein Zauberkabinett inspizieren und den Diebstahl sofort entdecken. Dann wird er zum Thron eilen und sich umsehen. Von dort wird er uns sehen, denn die Verschwindetücher verbergen uns vor allen Blicken, aber nicht vor den seinen. Sobald er uns sieht, wird er seine Reiter losschicken. Zuvor müssen wir den Kohlewald erreichen, dann haben wir vielleicht eine Chance. Verwahre das Messerchen wohl, Akandra! Und jetzt steht auf und lauft um euer Leben!"
Sie sammelten ihr Gepäck zusammen und rannten, so rasch sie konnten. Als Marc später über die Schulter blickte, sah er eine große Staubwolke weit im Westen. Die Verfolgung hatte begonnen. Inzwischen war die Sonne am Untergehen und Dunkelheit breitete sich aus. Die Erits litten unter Seitenstechen und glaubten, ihre Lungen würden platzen. Sie freuten sich auf die Dunkelheit, denn dann, so hofften sie, würde die Verfolgung enden. Doch jedes Mal, wenn sie zurücksahen, war die Staubwolke im Licht des Mondes größer geworden.
„Wie können die Reiter uns finden?" fragte Marc bei einer kurzen Rast. „Wir tragen doch die Verschwindetücher, und nun ist es auch noch dunkel?"
„Sie sind unerbittlich auf unserer Fährte und sie werden uns nicht verfehlen“, war die Antwort der Führerin. „Sie haben die Hundemeute bei sich. Die folgt unserer Spur."
In der Ferne vermeinte Marc schon den Kohlewald als dunklen Schatten zu sehen und atmete auf, da blieb die Frau plötzlich stehen. Sie hielt die Erits zurück und dies keinen Augenblick zu früh. Vor ihnen tat sich ein Abgrund auf.
„Ein ausgetrocknetes Flussbett“, sagte sie. „Ich bin unschlüssig, ob wir es rasch überqueren oder uns dort verbergen sollen."
Sie hatten nicht viel Zeit zum Überlegen, denn in der Ferne hörten sie schon das Bellen von Hunden. Außer einem großen, schwarzen Graben konnten sie nichts erkennen, deshalb kletterten sie vorsichtig über den Rand und rutschten den sandigen Abhang hinunter ins Ungewisse. Staubig und zerschürft landeten sie in dornigen Büschen.
„Kommt mit“, raunte Qumara und rannte so schnell sie konnte nach links. Die Erits folgten ihr stolpernd und stöhnend. Dornen schlugen sich in ihr Fleisch, und sie stolperten über Steine. Am östlichen Ufer versuchten sie, nach oben zu klettern, rutschten aber immer wieder ab. In der Dunkelheit fanden sie keinen Halt für Hände und Füße. Zu allem Überfluss verlor Marc auch noch das Gazenetz. Das Gebell der Hunde war nun unüberhörbar und auch das Trommeln vieler Pferdehufe. Da gelang es Qumara, mit verzweifelter Anstrengung die Böschung zu erklimmen. Sie zog die Erits nach, dann rannten alle mit letzter Kraft weiter. Der Lärm der Verfolger war nun ganz nah, sie konnten schon die Rufe der Reiter hören, die ihre Pferde anspornten. Plötzlich gab es ein wildes Geheul, Pferde wieherten in Todesangst, Hunde bellten, kläfften und winselten und dann war Stille. Nur noch eine einzelne Männerstimme schrie unter großen Schmerzen.
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