Schweigend und andächtig durchschritten sie den riesigen Raum. Der Boden war mit schwarzen und weißen Marmorplatten gepflastert, auf denen eine dicke Staubschicht lag, in der die Füße deutliche Spuren hinterließen. Wo waren die rechtmäßigen Besitzer des Palastes? Würden sie plötzlich auftauchen und die Eindringlinge nach dem Grund ihrer Anwesenheit fragen?
Mit der Zeit schwand bei Akandra die Scheu vor der seltsamen Umgebung. Immer wieder stieß sie Rufe der Bewunderung aus. Dann, als sie den Saal zur Hälfte durchmessen hatten, hielt sie es nicht länger. Sie lief zum anderen Ende, denn dort hatte sie einen Thron erspäht. Marc hatte Mühe ihr zu folgen, und dabei auf dem glatten Steinboden nicht auszurutschen. Plötzlich blieben beide wie angewurzelt stehen. Vor ihnen auf den marmornen Fließen lag ein Pelz. Es war ein Hermelinmantel. Die Zeit hatte ihn zwar schon etwas mitgenommen, aber er sah noch immer sehr beeindruckend aus. So ein kostbares Kleidungsstück gab es im ganzen Heimland nicht. Scheu machten sie einen Bogen um diese Zierde von Königen.
Als sie ihr Ziel erreicht hatten, war die Sonne völlig aufgegangen. Der Thron stand erhöht auf einem Podest, das mit einem blauen Seidenteppich belegt war. Er war ganz aus Gold, und das Licht der Sonne spiegelte sich in ihm und blendete sie. Das Gold des Thrones war zudem mit Smaragden, Rubinen und anderen Edelsteinen verziert. In der Rückenlehne war aus Diamanten eine Schlange eingelassen. Sie war so kunstvoll gefertigt, dass die beiden das Gefühl hatten, sie könnte sich jederzeit vor ihnen auf dem Boden ringeln.
Schlafwandlerisch ging das Mädchen auf diesen Thron zu, und hatte dort Platz genommen, bevor Marc sie zurückhalten konnte. Er rief ihr noch eine Warnung zu, aber sie hörte ihn nicht mehr. Als sie sich nämlich auf all das Gold und die Herrlichkeit gesetzt hatte, geschah etwas Seltsames. Die Wände des Saales verschwanden, und sie konnte die ganze Ebene überblicken. Bis zum Wald konnte sie sehen, aus dem gerade Jäger mit Hunden traten. Die Tiere schnüffelten nach der Fährte, und die finsteren Gestalten legten ihre Hände über die Augen und hielten in der weiten Ebene nach ihnen Ausschau. Dann wandten sie sich um und kehrten in den Schatten der Bäume zurück.
Akandra ließ ihren Blick weiter schweifen und sah im Osten wieder einen Wald. Davor lief eine weiß gekleidete Frau über die Ebene. Aber das Mädchen achtete nicht weiter auf sie. Im Südosten blitzte ein Fluss. Akandra nahm an, dass es der Goldfluss war, und ganz im Westen sah sie den Wolfsweg. Bis auf ein paar Tiere war keine lebende Seele weit und breit zu entdecken. Ihr zu Füßen aber sah sie ratlos ihren Freund Marc, der von einem Bein auf das andere trat. Nachdenklich und geistesabwesend stand Akandra auf und trat zu ihrem Gefährten. Als sie den Thron verließ, verschwand die Weite, die Wände und Fenster kehrten zurück. Alles war wie vorher.
„Was hast du auf diesem goldenen Ding erlebt?" fragte ihr Freund. „Du hast so seltsam ausgesehen, so als blicktest du in weite Ferne."
„Das habe ich auch getan, aber ich will darüber nicht sprechen."
„Soll ich es auch ausprobieren?"
„Nein, das möchte ich nicht!"
„Ist es denn gefährlich?"
„Nein."
„Warum soll ich mich dann nicht auch auf den Thron setzen?"
Ärgerlich brach Akandra den Disput ab und sagte: „Weil es dir nicht zukommt."
Dann wandte sie sich ab und schritt erhobenen Hauptes durch den Saal zurück zum Eingang.
In der Vorhalle rasteten die beiden ein wenig. Doch dieses Schloss hatte sie so sehr erregt, dass sie ihre Müdigkeit kaum noch spürten. So berieten sie aufgeregt, was denn nun zu tun sei. Es war klar, dass sie, so lange es noch Tag war, den schützenden Palast nicht verlassen durften. Marc wollte deshalb bis zum Abend warten und dann, so schnell es ging, nach Osten laufen. Ihm war dieser Prunkbau unheimlich. Akandra hingegen war neugierig. Sie wollte zuerst das Gebäude erforschen. Nachdem sie vom Thron aus die Verfolger hatte umkehren sehen, fühlte sie sich sicher. So stritten sie eine Weile, und dann setzte sich das Mädchen durch.
„Wir müssen diesen Palast erkunden“, sagte sie, und ihr Ton duldete keine Widerrede.
„Nun denn, Verehrteste, ihr Wunsch ist mir Befehl“, antwortete Marc aufgeräumt, reichte ihr galant den Arm und führte sie zu einer der Freitreppen, die links und rechts des Thronsaals nach oben führten. Sie waren aus schwarzem Marmor auf der linken Seite und auf der rechten aus weißem Marmor. Die Treppen führten zu einem breiten Gang, von dem auf beiden Seiten Zimmer abzweigten. Der Gang wiederum mündete in eine neue Treppe. Am Fuß dieser Treppe zweigten nach links und rechts Gänge ab, an deren Ende wieder Treppen waren.
Sie stiegen treppauf und treppab und öffneten viele Türen. Sie liefen durch Zimmer, Hallen und Säle. Akandra wollte jeden Winkel des Palastes besichtigen. Aber bald wussten sie nicht mehr, wo sie waren, ob vor ihnen noch unbekannte Räume lagen, oder ob sie den jeweiligen Teil des Schlosses schon einmal durchmessen hatten. Etwas Orientierung boten Farben. Wie sie herausfanden, bestanden die Böden im südlichen Teil aus schwarzen und im nördlichen Teil aus weißem Marmor. Allerdings waren sie oftmals so verschwenderisch mit Teppichen belegt, dass man ihre Farbe nicht erkennen konnte. Teppiche hingen auch an den Wänden und schmückten die Zimmer. Manchmal weiteten sich auch die Gänge zu kleinen Hallen, dann plätscherte in der Regel in der Mitte ein Brunnen. Die Brunnen wiederum waren mit Figuren gekrönt: Figuren aus Stein, aus Bronze oder gar aus Gold. Oft waren es Szenen, die Marc die Schamröte auf die Wangen trieben. Männliche Gestalten trieben Spiele mit Frauen jeden Alters. In kunstvollen Arrangements kopulierten Paare in allen erdenklichen Stellungen. Seine Begleiterin hingegen betrachtete die erotische Schaustellung mit Interesse und Schmunzeln.
Aber nicht nur auf den Brunnen fanden sich derartige Darstellungen. Überall waren nackte Gestalten gegenwärtig. Als Wandmosaik und als Einlegearbeit in Möbeln, aus Elfenbein geschnitzt und in Marmor geschlagen, auf großen Bildern gemalt und in Metall gegossen sahen die beiden Besucher Frauen keusch ihre Blößen verdeckend oder mit weit gespreizten Beinen. Sie begegneten Männern mit großen Gliedern, die wie Fabelwesen Bockshörner trugen und deren Fuß nicht in Zehen, sondern in einem Huf endete. Mit der Zeit legte Marc seine Verlegenheit ab und konnte nun auch die hohe Kunstfertigkeit der Schöpfer dieser Gebilde würdigen. Mit einem scheuen Seitenblick auf seine Begleiterin begann er sogar genauer zu studieren, was die Paare aus Stein und Metall ihm plastisch vorführten.
Aber nicht nur die erotischen Figuren waren kunstreich, sondern alles in diesem Palast war mit erlesenem Geschmack ausgesucht. Da waren die wundervollen Teppiche, die goldenen Waschbecken, die seidenen Kissen, die gestickten Decken, das Geschirr aus hauchdünnem Porzellan, die gehämmerten Schalen aus Gold und Silber mit kunstvollen Gravuren. Noch nie hatten die Erits eine solche Pracht gesehen.
Irgendwann blieb das Mädchen aus Waldmar stehen und sagte überwältigt: „Hier möchte ich bleiben, hier gefällt es mir. Dieser Palast erinnert mich an das Haus meiner Eltern."
„An das Haus deiner Eltern?" fragte Marc entgeistert. „Wann haben deine Eltern in einem derartigen Palast gewohnt?"
„Immerhin sind wir die Grafen von Waldmar, und unser Schloss hatte auch viele Räume, wenn gleich nicht so viele wie hier. Und einen gepflegten Lebensstil haben wir auch geführt."
Der junge Erit erinnerte sich an die Besuche bei seinem Patenonkel. Er stellte sich dessen Schloss vor mit den kleinen Kammern, seiner einfachen, derben Einrichtung und verglich dies alles mit dem Prunk und dem verschwenderischen Luxus, durch den sie hier schritten. Er wusste nicht, ob er lachen oder an dem Verstand seiner Begleiterin zweifeln sollte. Doch sie fuhr fort: „So müsste man wohnen! Wenn wir nicht eine so dringliche Aufgabe hätten, würde ich hierbleiben und mich einrichten."
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