Die letzten Sätze hatte sie gebrüllt, und Marc starrte sie erschrocken an. Ihr Gesicht war wild verzerrt und ihre Hände zu Fäusten geballt. Vor kurzem hatte sie einem Mann ihr Messer in den Unterleib gejagt und ihn so tödlich verwundet, dass er wahrscheinlich elend krepieren würde. Ratlos fragte er sich, was wohl in ihr vorginge, und ob sie keine Gewissensbisse habe.
„Warum hast du die Waffen, die du bekommen hast, nicht eingesetzt? Meinst du etwa die Älteren haben uns diese wertvollen Gaben nur zum Spaß mitgegeben? In den Satteltaschen waren im Übrigen auch die Karten. Dieses Schwein hätte nichts Eiligeres getan, als sie unseren Feinden auszuliefern. Beinahe wäre unsere Mission schon zu Beginn gescheitert! Du gefährdest mit deinem Eigensinn die Welt, und ich muss die schmutzige Arbeit übernehmen." Akandra war wütend.
„Schmutzige Arbeit“, schnaubte Marc empört, „das war keine schmutzige Arbeit. Du hast einen Mann getötet, ihn ohne Erbarmen umgebracht."
„Er hatte auch kein Erbarmen mit uns. Er wollte uns ausrauben, und ich weiß nicht, ob er uns am Leben gelassen hätte."
„Wenn du nur gewartet hättest. Sicher hätte sich eine Gelegenheit ergeben, bei der wir ihn hätten überwinden können, ohne ihn gleich umzubringen. Mein Gott, mit etwas Geduld und Einsatz unseres Geistes können wir die Probleme, denen wir begegnen, auch auf friedliche Art lösen! Ich hasse deine Rücksichtslosigkeit!"
„Du bist eben nur ein Gärtnerjunge und wirst es immer bleiben!"
„Ja, ich bin der Sohn eines Gärtners, und ich bin stolz darauf. Ich bin stolz, dass wir Gärtner um Regen und Sonne zittern, dass wir uns um Pflanzen sorgen, dass wir uns freuen, wenn etwas wächst, blüht und Früchte trägt. Ich bin stolz darauf, dass wir Leben schaffen und es nicht vernichten!"
„So, ihr Gärtner vernichtet kein Leben? Und reißt dein Vater etwa kein Unkraut aus? Wer gibt euch das Recht, die eine Pflanze zu hegen und die andere zu vernichten?"
Gerade als Marc antworten wollte, unterbrach sie ihn mit einer unwilligen Handbewegung und sagte: „Pst!"
Dabei deutete sie zurück. Dort am Himmel, etwa in der Gegend wo sie den Verwundeten zurückgelassen hatten, kreiste eine Schar Vögel. Aber sie stießen nicht wie Geier nach unten auf die vermeintliche Beute, sondern stoben als schwarze Punkte nach allen Himmelsrichtungen auseinander.
„Das waren Späher“, sagte Akandra. „Wir müssen aufpassen! Jetzt wird es gefährlich."
Wenig später hörten sie vor sich Hufschlag und konnten ihre Ponys gerade noch rechtzeitig ins Unterholz neben der Straße lenken, da galoppierte auch schon ein Reiter in großer Eile vorbei. Er war in einen schwarzen Mantel gehüllt und hatte seine Kapuze weit ins Gesicht gezogen, so dass sie ihn nicht erkennen konnten. Sie wagten sich nicht zurück auf die Straße, und das war gut so, denn kurz darauf kam der Reiter zurück. Er musste bei dem Verwundeten gewesen sein, denn er hatte dessen Tasche an seinen Sattel gebunden. Aus der Tasche rieselten Brotkrumen in den Staub der Straße.
„Ob der Kerl wohl schon tot war oder noch etwas ausgeplaudert hat?" fragte Akandra nachdenklich.
„Wahrscheinlich hat er noch gelebt und unser Geheimnis verraten."
„Dann sollten wir uns noch eine Weile verstecken, um zu sehen, was geschieht."
Sie führten die Pferde noch weiter ins Dickicht und zwangen sie, sich niederzulegen. Es verging nicht viel Zeit, und sie hörten schwere Stiefel, die rasch näherkamen. Bald wurde ihnen mit Erschrecken klar, wer da auf sie zukam. Aus dem Osten stürmte ein Trupp Orokòr heran. Die wilden Männer liefen im Gleichschritt mit hoher Geschwindigkeit. Voller Angst hielten die beiden Erits den Ponys die Nüstern zu, damit sie nur ja keinen Laut von sich gaben.
Ganz nah sahen sie die furchtbaren Gestalten mit den niederen Stirnen und den platten Gesichtern an sich vorbeiziehen. Sie trugen Rüstungen aus Leder und hatten grobe Schnürstiefel an. Beim Vorletzten in der Reihe waren die Schuhbänder aufgegangen. Mit jedem Schritt fuhr seine Ferse aus dem Schuh und das raue Leder schürfte über seine Haut. Sie war schon ganz blutig. Dazu kam, dass er immer wieder auf die losen Schuhbänder trat und stolperte. Aber er wagte es nicht, anzuhalten und den Schuh neu zu binden. Vor der stampfenden Gruppe pickten Spatzen Brotkrumen aus dem Staub der Straße, die der Reiter verloren hatte. Es schien sie nicht zu stören, dass eine Horte Orokòr auf sie zu fegte, deren Füße sie zermalmen würden. Diese kleinen, zierlichen Vögel hatten keine Angst, sondern fraßen in aller Ruhe. Marc hielt den Atem an. Erst im letzten Moment flogen die Vögel zur Seite und entgingen so dem sicheren Tod.
„So sollten wir es auch halten“, dachte er, „die Nerven bewahren und nicht in Panik geraten. Dann können schwere Stiefel auch uns nicht umbringen."
Kaum war die Meute in der Ferne verschwunden, deutete Akandra wieder zum Himmel. Über ihnen suchten Scharen von Tauben systematisch das Land ab.
„Die sind nach uns ausgesandt“, flüsterte sie. „Die Treibjagd hat begonnen."
Nun hörten sie Stimmen im Wald auf der anderen Seite der Straße. Kommandos wurden gebrüllt und Büsche niedergetreten. Jäger mit groben Überwürfen und sonnenverbrannten Gesichtern stürmten hervor. Neben ihnen liefen wolfartige Hunde. Sie teilten sich und rannten auf der Straße nach Osten und Westen.
„Wenn die uns wittern, sind wir verloren“, murmelte Marc. „Bei dieser Verfolgung haben wir so gut wie keine Chance."
Sie duckten sich noch tiefer in ihr Versteck und umfassten verzweifelt ihre Waffen. In diesem Augenblick hörten sie hinter sich ein Krachen und Knurren in den Büschen, und ein schwarzer Schatten sprang auf sie zu. Es war ein riesiger Wolfshund. Seine Lefzen waren weit auseinandergezogen. Speichel floss zwischen den mächtigen Zähnen. Die Krallen der Tatzen waren weit ausgefahren. Dieses Tier würde sie zerreißen. Aber noch im Sprung traf es der Hammer, den Marc geschleudert hatte. Er zerschmetterte den mächtigen Schädel, das Tier stürzte zu Boden, zuckte noch ein paar Mal und blieb dann regungslos liegen. Die Waffe war von selbst in die Hand des Erits zurückgekehrt.
„Kompliment, mein Freund, das hätte ich dir nicht zugetraut."
Marc sah mit Schaudern auf das große Tier.
„Lange werden wir uns nicht mehr verbergen können. Wenn wir bleiben finden uns die Hunde mit Sicherheit. Wir müssen weg!"
„Auf die Straße können wir nicht zurück, und mit den Pferden kommen wir nicht durch den Wald."
„So bleibt uns nichts, als die Tiere abzuladen und unser Gepäck selbst zu tragen."
Im Moment war kein Verfolger zu sehen. Sie erhoben sich, sattelten die Ponys ab und luden sich die schweren Satteltaschen selbst auf die Schultern.
„Wenn wir dem Kerl etwas von unseren Schätzen abgegeben hätten, bräuchten wir jetzt nicht so schwer zu schleppen“, stöhnte Marc.
„Fang' nicht schon wieder an“, antwortete seine Gefährtin wütend. „Er wollte nicht etwas von dem Geld, er hatte sich alles genommen."
Sie gaben den Pferden einen Schlag, und die Tiere stürmten auf die Straße und galoppierten zurück in die Richtung, aus der sie vor Stunden gekommen waren. Die Erits hingegen gingen nach Süden und suchten dort einen Pfad im Wald. Sie hielten sich zwischen den Bäumen und umgingen jede Lichtung, auf der die suchenden Vogelschwärme sie hätten entdecken können. Zum Glück waren es hauptsächlich Tannen und Fichten zwischen denen sie sich verbergen konnten, denn die Laubbäume hatten längst ihre Blätter abgeworfen. Bald waren sie müde, und ihre Rücken schmerzten von der schweren Last, die sie mit sich schleppten. Durst quälte sie, denn ihre Wasserflaschen waren leer.
„Das Gold können wir leider nicht trinken“, beschwerte sich Marc. "Wie gern würde ich es gegen klares Wasser tauschen."
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