„Das ist ein Verrückter!" flüsterte Akandra vor sich hin.
„Vielleicht hat er Recht?" antwortete Marc ebenso leise. „Da ist schon etwas dran, an dem, was er sagt."
Am Feuer war Streit ausgebrochen. Die Krieger hatten sich erhoben und schimpften: „Hast du überhaupt schon jemals einen Orokòr gesehen?"
„Nein, aber ich werde sie bald erleben."
„Die Orokòr wurden vor langer Zeit von Ormor als Geiseln für Centratur ins Land geholt. Man kann zu ihnen keine freundschaftlichen Beziehungen anknüpfen."
„Man hat es nur noch nie versucht. Diese Gerüchte dienen doch nur dazu, Hass gegen sie zu schüren. Nichts davon ist bewiesen. Im Übrigen sollte man nicht alle Orokòr über einen Kamm scheren. Sie sind sicher nicht alle gleich, wie wir Menschen auch. Nur eine Minderheit verstößt gegen die Menschlichkeit. Ich kann mir vorstellen, dass die Orokòr selbst unter ihrem Ruf leiden, und dass sie auch deshalb so unfreundlich mit anderen Völkern umspringen."
Ein großes Gelächter antwortete ihm.
„Unfreundlich umspringen? Das ist gut! Das wird ein Lacherfolg, wenn ich das weitererzähle", prustete der Dürre, der das Essen gekocht hat.
Die beiden Krieger hingegen fanden die Äußerungen des Weißhaarigen nicht lustig: „Morden, Plündern und Rauben bezeichnest du mit 'unfreundlich umspringen'. Entweder bist du ein Narr oder ein Agent des Feindes."
Der Mann in der Kutte gab nicht auf. „Ich bin keines von beiden. Gerade weil ich dem Morden nicht mehr zusehen kann, bin ich der Meinung, wir sollten unser Verhältnis zu den Orokòr überprüfen. Bisher haben wir auf ihre Kriege nur mit Krieg reagiert. Wozu hat dies geführt: Zu erneutem Krieg. All das Kämpfen hat der Welt keinen Frieden gebracht. Wir müssen endlich einen neuen Weg probieren, einen Weg der Verständigung, des Abbaus von Vorurteilen. Dazu will ich den Anfang machen. Ich bin auf dem Weg zu den Orokòr und werde bei ihnen um Verständnis für alle Geschöpfe werben. Ich will den Hass mindern. Nur so gibt es eine Chance für wirklichen Frieden."
„Du wirst wohl nicht viel zum Reden kommen, denn bevor du deinen Mund aufgemacht hast, bist du auch schon tot. Und wenn du Pech hast, fressen sie dich anschließend, weil sie in den vergangenen Tagen nichts Besseres gefunden haben."
„Das ist schon wieder so ein Vorurteil gegenüber den Orokòr, das ihnen Unrecht tut und jede Aussöhnung verhindert. Ich gehe waffenlos zu ihnen, und meine Hilflosigkeit wird mein Schutz sein."
„Waren denn die Frauen und Kinder, die sie bisher umgebracht haben, nicht hilflos?"
„Ihr solltet nicht alle Gerüchte glauben, die man über die Orokòr erzählt. Es mag schon sein, dass Unschuldige von ihnen getötet wurden, aber wenn dies tatsächlich vorgekommen ist, so geschah dies im Eifer des Krieges. Auch die Menschen haben viele Gräueltaten vollbracht und davon redet niemand. Ich bin sogar sicher, dass selbst die Achajer im Krieg keine Waisenknaben gewesen sind. Orokòr töten, da bin ich überzeugt, nicht ohne Notwendigkeit."
In diesem Augenblick wurde der Mann in der Kutte durch eine schallende Ohrfeige unterbrochen. Akandra war unbemerkt vor ihn hingetreten und hatte mit aller Kraft zugeschlagen. Da stand das kleine Erit-Mädchen inmitten der Männer mit blitzenden Augen und rief: „Wenn ihn keiner von euch zum Schweigen bringt, so muss ich es eben tun."
Sprach’s und ging zu ihrem Begleiter zurück. Betroffenes Schweigen breitete sich am Lagerfeuer aus. Marc saß mit rotem Kopf unter dem Baum und schämte sich für die Freundin.
„Du hast einen Mann beleidigt. Er ist vielleicht ein wenig töricht und weltfremd, doch von ehrlicher Gesinnung und großer Friedensliebe."
„Er hat meine Mutter beleidigt“, war die knappe Antwort.
Am Feuer kam, nachdem sich die Männer von ihrem Erstaunen erholt hatten, wieder ein Gespräch in Gang.
„Die Orokòr sind es ja nicht allein“, sagte der Große. „Überall gibt es heutzutage Banden und Wegelagerer. Die schlagen dich erst tot und fragen dann, ob es bei dir etwas zu holen gibt. Am schlimmsten aber sind die vagabundierenden Soldaten, und von denen sind am gemeinsten die aus Luran. Sie haben nur eines im Sinn, und das ist Beutemachen. Wenn du ihnen in die Hände fällst, so foltern sie dich erst einmal, denn du könntest irgendwo vielleicht etwas Wertvolles verborgen haben."
„Soll ich euch erzählen, welche Methoden sie dabei anwenden?" Der dürre Koch war plötzlich ganz eifrig geworden. „Es schaudert einen, wenn man es hört. Passt auf! Die gebräuchlichste Methode ist das Ohren- und Naseabschneiden, wenn du dann nicht redest, schlitzen sie dir den Bauch auf. Besonders wirksam aber ist das Pfählen. Dabei wirst du auf den Bauch gelegt und dir von hinten in den Arsch..."
„Wir wollen das gar nicht hören“, unterbrach ihn der eine der Krieger. „Es gibt ehemalige Soldaten, die Ehrvergessen so etwas tun mögen. Aber sie haben dann kein Recht mehr, das Ehrenkleid zu tragen. Sie sind eine Schande, und man muss sie ausmerzen. Aber ich lasse nicht zu, dass man hier von ein paar Ausnahmen auf alle Krieger schließt."
„Das Land befindet sich in Auflösung“, schaltete sich der Große beschwichtigend ein. „Ganz gleich, wer einen umbringt will, man kann nicht mehr allein über die Straßen reiten, ohne um sein Leben fürchten zu müssen. Aber wohin soll man sich noch wenden? Die Flüchtlinge sind alle nach Westen geströmt, so als läge dort an der Küste die Rettung. Nun sitzen sie im Heimland in der Falle. Im Süden, so hört man, tobt Krieg, und im Norden ist Nowogoro belagert und wird demnächst fallen. Im Osten soll es noch nicht so schlimm sein. Dort herrschen noch einigermaßen friedliche Zustände. Aber man weiß natürlich nicht wie lange noch. Und wie solle man auch dahin gelangen? Darken durchqueren zu wollen, käme einem Selbstmord gleich."
„Man spricht von einem Weg über das Graue Gebirge im Norden. Von dort führt eine Route durch Luran nach Osten." Der junge Mann mit der Narrenkappe gab diesen Tipp, den Marc im Kopf mit seinen Karten verglich und sich genau merkte.
Mit der Zeit verstummten die Gespräche, und die Männer legten sich zum Schlafen nieder. Auch Marc wollte sich in seine Decke rollen, als er an der Schulter geschüttelt wurde. Einer der Soldaten, der im Gegensatz zu seinem Kameraden am Feuer nur wenig gesagt hatte, kniete neben ihm. Sein Gesicht war unrasiert, und er stank nach Knoblauch.
„Hör mal, Kleiner“, keuchte er Marc ins Ohr, „ich möchte mit dir ein Geschäft machen. Du überlässt mir deine Kleine für eine halbe Stunde, und ich gebe dir dafür das da."
Bei diesen Worten zeigte er dem Erit einen dunklen Beutel. Marc war sprachlos und antwortete nicht.
Deshalb fuhr der Krieger fort: „Nun zier' dich nicht so! Einmal ist Keinmal. Ich nutze dir deine Liebste schon nicht ab. Ich habe noch nie mit einer Erit und würd' es gerne einmal ausprobieren. Die Erit-Frauen sollen große Klasse sein, sagt man. Stimmt es eigentlich, dass sie es quer haben? Du nimmst jetzt den Beutel, und ich geh' mit der Kleinen in die Büsche, und bevor du dich versiehst, sind wir wieder da. Und ich verspreche dir, sie heil und ganz wieder zu bringen. Also, bist du einverstanden?"
Marc hatte sich inzwischen gefangen und sagte laut: "Hau ab, du Schwein!"
Der Soldat verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
„Das sollst du bereuen“, knurrte er. „So kann man mit mir nicht umspringen. Ich habe dich höflich gefragt. Du kannst von Glück reden, dass hier eine Menge Leute herumliegen. Sonst hätte ich mir nämlich einfach genommen, was ich will. Aber das letzte Wort zwischen uns ist noch nicht gesprochen."
Wütend kroch er zurück zu seinem Kameraden. Marc setze sich auf, und sah, dass der Große, der hier den Ton angab, aufmerksam zu ihm herüberschaute. Dann kuschelte er sich in seine Armbeuge und schloss beruhigt die Augen. Es waren schließlich Wachen aufgestellt, und sie waren hier so sicher, wie man in diesen Zeiten nur sicher sein konnte. Kurz bevor er in den Schlaf absank, fiel dem jungen Erit noch ein, dass der Glatzkopf als einziger den ganzen Abend über kein Wort gesagt hatte.
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