„Das ist ein Schwert aus den Schmieden jenseits der Berge“, sagte er voller Bewunderung. „Eine Meisterhand hat es geschaffen“.
„Und dieser reine Stahl“, fiel nun Werhan ein und hob seine Waffe in die Höhe, „soll niemals einem bösen Zweck dienen! Ich gelobe es!" Dann stellte er sich mit dem Schwert in der Hand neben dem Eingang auf.
In diesem Augenblick wurde die Tür durch einen wuchtigen Tritt aus ihren Angeln gerissen. Ein kalter Windstoß blies herein, und in der Türöffnung stand eine große schwarze Gestalt. In dem weit aufgerissenen Mund waren mächtige Reißzähne zu sehen, die spitzen Klauen hatte das Wesen weit vorgestreckt.
„Ein Orokòr!" rief Mog entsetzt.
Dieser rief mit hässlicher Stimme: „So haben wir euch endlich, ihr kleines Gewürm. Es hat lange gedauert, aber niemand entgeht uns. Kommt, man erwartet euch schon“.
Blitzartig, ohne ein Wort zu sagen, trat Werhan von der Seite auf die Bestie zu und stieß sein Schwert in das behaarte Herz. Der Orokòr war nicht sofort tot. Seine Klaue fuhr auf den jungen Menschen herab, und die langen Nägel bohrten sich in sein Fleisch und zerfetzten es. Dann sanken beide zu Boden. Damit war die Gefahr aber nicht gebannt. Ein zweiter Orokòr stieg über die Leiche des ersten. Er sah seinen toten Kameraden und begann zu toben.
„Das werdet ihr büßen“, krächzte er. „Ich werde euch langsam zermalmen und in Stücke reißen. Ihr werdet es verwünschen, jemals gelebt zu haben“.
Horsa hatte das Schwert auf den Unhold gerichtet und Marga ihren Dolch gezogen. Mog war aufgestanden und hielt einen Stuhl als Waffe in der Hand. Sie waren alle kampfbereit, obwohl sie gegen den mächtigen Krieger keine Chance hatten. Doch ein Umstand kam ihnen zu Hilfe: der Raum war so nieder, dass der Orokòr nicht aufrecht stehen konnte und gebückt kämpfen musste. So waren sich die Gegner beinahe ebenbürtig. Der schwarze Krieger musste so manchen Hieb und Stich von seinen kleinen Feinden einstecken. Das machte ihn noch wütender. Das ganze Haus bebte von dem wilden Kampf.
Mit der Zeit ließen die Kräfte der Verteidiger nach, und langsam gewann der Angreifer die Oberhand. Er drängte die Gefährten immer weiter in eine Ecke des Raumes. Es war nur mehr eine Frage der Zeit, bis sie alle blutend am Boden lagen. Da griff Pet ein. Er war durch die Beine des Riesen geschlüpft und an seinem Rücken emporgeklettert. Nun klammerte er sich an dessen Hals fest und versuchte, mit seinem kleinen Dolch durch die ledrige Haut zu stechen, zwar ohne Erfolg, aber der Orokòr wurde abgelenkt. Er versuchte den Peiniger abzuschütteln. Dadurch gelang es Horsa, sein Schwert in den Bauch des Unholds zu stoßen. Dieser brüllte so laut auf, dass die Wände erzitterten, und schlug ziellos um sich. Der Schmerz hatte ihn blind gemacht. Marga tauchte wagemutig unter den Klauen hindurch. Sie hatte ihren langen, blanken Dolch mit beiden Händen am Heft gefasst und stieß ihn mit all ihrer Kraft dem Orokòr durch einen Spalt in der Rüstung. Dieser sank zusammen, Blut quoll aus seinem Mund. Bevor er starb, krächzte er einen Fluch. Dann war Ruhe in dem verwüsteten Zimmer.
Alle standen wie betäubt und konnten das Geschehene noch nicht fassen. Da bemerkten sie Til, der verlegen in der Tür stand, und eine plötzliche Erkenntnis kam über Horsa.
„Du Schwein hast uns verraten“, sagte er ruhig. „Du Schwein hast deine eigene Familie ans Messer geliefert“.
Til lief zu seiner Mutter und sank vor ihr auf die Knie.
„Mutter!" schluchzte er. „Mutter, verzeih mir! Ich musste es tun!"
Horsa achtete nicht auf ihn, sondern sagte wie zu sich selbst: „Und Werhan hat es gewusst. Er hatte dich angefasst. Er hat es gewusst und nichts gesagt“.
„Wir hätten ihm nicht geglaubt, wenn er von seinem Verdacht geredet hätte. Deshalb hat er geschwiegen und seine Vorkehrungen getroffen. Ohne ihn wären wir jetzt alle tot“. Sams Stimme erstickte.
Marga hatte sich zu ihrem Bruder auf den Boden gesetzt und barg seinen blutigen Kopf an ihrer Brust. Tränen liefen ihr über die Wangen.
„Du musst bei mir bleiben“, sagte sie leise. „Du darfst mich nicht allein lassen. Du bist doch das Einzige, was ich habe“.
Horsa fasste sie sanft um die Schultern und sagte: „Du hast doch noch mich.“
Osten
Auf den Schultern von Marc und Akandra lastet eine große Verantwortung. Sie müssen so rasch wie möglich nach Osten zum Land Rutan eilen. Wie die Vorkommnisse in Centratur zeigen, duldet ihre Mission keinen Aufschub. Aber sie sind noch jung und unerfahren und auf die Gefahren der Reise nicht vorbereitet.
Das Lager
Die große Scheibe der Sonne stand tief im Westen und sandte ihre Strahlen hinter den beiden Reitern her. Rechts und links war das Land flach und mit Büschen bewachsen. In der Ferne erhob sich ein Gebirgszug, der bis zur Straße reichte. Vor den Reitern, etwa eine halbe Wegstunde entfernt, lag dunkel ein Wald.
„Bis dorthin schaffen wir es noch“, sagte Marc, „obwohl ich verdammt müde bin."
Akandra antwortete nicht. Sie döste vor sich hin und hielt sich eisern am Sattelknauf fest. Sechs Tagen waren vergangen, seit die Erits wieder im Tageslicht waren. Sie hatten seit dieser Zeit nur Rast eingelegt, wenn die Tiere nicht mehr konnten, und kaum geschlafen. Wund geritten sehnten sie sich nach Ruhe. Doch ihr Auftrag trieb sie vorwärts. Am Abend des gestrigen Tages hatten sie die Oststraße erreicht. Etwas abseits des Weges hatten sie sich in ihre Decken gehüllt und unter einen Busch gelegt. Aber der erholsame Schlaf wollte sich nicht einstellen. Dazu war die Nacht zu kalt, denn der Winter stand vor der Tür. Schon vor Tagesanbruch hatten sie sich wieder auf ihre Ponys geschwungen und waren seitdem ununterbrochen geritten. Sogar gegessen hatten sie auf dem Rücken der Pferde.
Die sonst so belebte Strecke war völlig leer. Kein Wanderer oder Reiter, nicht einmal ein Fuhrwerk waren ihnen bisher begegnet. Die Flüchtlingsströme waren versiegt. Wie ausgestorben lag die Straße vor ihnen. In ihren Köpfen war nur noch den Wunsch, sich auf die Erde zu legen und zu schlafen. In dem Wald vor ihnen hofften sie auf ein ruhiges und sicheres Nachtlager.
Endlich verschwand ihr Weg zwischen Bäumen und damit auch das Tageslicht. Es wurde so dunkel, dass sie die Straße nicht mehr erkennen konnten. Plötzlich zischte Marc: „Vorsicht!"
Der Geruch von brennendem Holz war ihm in die Nase gestiegen. Aber es war bereits zu spät. Aus den Schatten zu beiden Seiten der Straße drangen düstere Gestalten und rissen die Erits von den Pferden. Fackeln wurden angezündet, und eine spöttische Männerstimme sagte: „Na, wen haben wir denn da?"
Verwundert antwortete ein anderer: „Es sind Erits! Was machen die außerhalb des Heimlands?"
„Wie heißt ihr, was sucht ihr hier, und wo wollt ihr hin?" fragte gellend eine dritte Stimme. Sie gehörte einer kleinen, glatzköpfigen Gestalt, wie Akandra jetzt erkennen konnte.
„Ich heiße Akandra, und das ist mein Freund Marc. Wir suchen die Einsamkeit."
Diese Ausrede hatten sie im Lauf des Tages abgesprochen.
„So, Jungfer Akandra, ihr sucht die Einsamkeit? Was hat in euch diesen törichten Wunsch geweckt? Die Zeiten sind nicht mehr so, wie sie einst waren, und die Wege unsicher. Diese Neuigkeit müsste doch bis ins Heimland herumgesprochen haben!" Es war ein großer Mensch, der ihnen entgegnete, der gleiche, der sie spöttisch begrüßt hatte. Marc fiel auf, dass er an jeder Hand sechs Finger hatte.
„Wir wollen nichts mehr mit dem Heimland zu tun haben“, mischte er sich nun ein. „Dort will man uns nicht haben, deshalb sind wir fort. Wir haben uns beide, und das genügt." Es gelang ihm, seiner Stimme einen überzeugenden, trotzigen und gekränkten Tonfall zu verleihen.
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