Horst Henrik Neißer
Centratur
Übersetzungen aus dem Blauen Buch
Zwei Bände in einer Edition
Kampf um Hispoltai
Die Macht der Zeitenwanderer
Circel 2016
Horst Henrik Neißer
Centratur Band 1 und 2
Übersetzungen aus dem Blauen Buch
Kampf um Hispoltai
Die Macht der Zeitenwanderer
völlig neu bearbeitete eBook-Ausgabe
Published at epubli GmbH, Berlin Copyright: © 2016 Horst Neisser
Hardcover-Ausgabe im List Verlag 1996
Taschenbuchausgabe im Circel-Verlag 1. Aufl. 2009, 2. Aufl. 2010
Internetseite zu diesem Roman: www.centratur.de
Band 1
Kampf um Hispoltai
Was gewesen ist, dasselbe wird wieder sein,
und was geschehen ist, dasselbe wird wieder geschehen,
und es gibt nichts Neues unter der Sonne.
Es ist nur kein Andenken an die früheren Zeiten geblieben,
und auch für die späteren, die künftig sein werden,
wird kein Andenken übrig bleiben bei denen,
die noch später sein werden.
Prediger 1,9-11
Vorwort des Übersetzers
Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich die Welt verändert. Die Grenzen haben sich für die Menschen im Osten und im Westen geöffnet, und dadurch hat sich auch mein Leben verändert.
Vor längerer Zeit erreichte nämlich die Post in U. ein seltsamer Brief. Die Adresse war mit ungelenker Hand in kaum entzifferbaren Buchstaben geschrieben. Gerichtet war der Brief an eine Frau N. Diese Frau war meine Großmutter. Sie lebt schon seit vielen Jahren nicht mehr und hatte bereits in den fünfziger Jahren die Wohnung gewechselt. Aber U. ist ein kleiner Ort, und so erinnerte sich der Briefträger an meine Tante, die noch dort wohnt. Ihr überreichte der findige und pflichtbewusste Mann den grauen Umschlag aus billigem Papier. Sie wiederum leitete den Brief an mich weiter.
Absender der Botschaft war eine mir völlig unbekannte Familie in der Ukraine. Der Schreiber oder die Schreiberin hatte lateinische und kyrillische Buchstaben vermischt. Textpassagen in russischer Sprache wechselten mit solchen in schlechtem Deutsch ab. Außer ein paar Brocken, die mich neugierig machten, konnte ich nichts verstehen. Ich erinnerte mich aber an eine alte Freundin, die ich während meiner Studienzeit kennen gelernt und die damals Slawistik studiert hatte. Zu ihr nahm ich Kontakt auf, wir trafen uns und entschlüsselten gemeinsam die Nachricht. Gemeinsam fuhren wir schließlich auch nach Russland und sprachen mit den Leuten.
Sie hatten mir nämlich geschrieben, dass mein Vater im letzten Krieg in ihrem Haus gestorben sei, und sie seinen deutschen Angehörigen gerne sein Grab zeigen wollten. Außerdem hätten sie seine Hinterlassenschaft fünfzig Jahre lang für uns verwahrt. Mein Vater war im Zweiten Weltkrieg als einfacher Soldat am Russlandfeldzug beteiligt gewesen und nicht mehr zurückgekommen. Ich habe ihn nie gesehen. Über sein Schicksal hatten weder meine Mutter noch meine Großeltern etwas herausfinden können. Umso überraschter war ich nun über dieses Zeichen, von dem ich mir Aufklärung erhoffte. Je älter man wird, desto mehr besinnt man sich auf seine Wurzeln.
Nach einer schwierigen und mühsamen Reise gelangten wir in ein kleines Dorf mit heruntergekommenen Häusern und teils brachliegenden Feldern. Kaputte Traktoren standen am Wegrand und rosteten vor sich hin. Ein Hotel gab es nicht, sondern nur einen kleinen Gasthof. Die Toilette war katastrophal. Wir waren mit einem Schlag ein wenig ins Mittelalter zurückversetzt. Aber die Herzlichkeit der Menschen glich die trostlose Atmosphäre wieder aus.
Die Leute, die geschrieben hatten, waren Kleinbauern. Ihre Behausung war kärglich und baufällig. Der Zerfall des mächtigen Sowjetreichs spiegelt sich in jedem seiner Teile. Wir saßen in einem kleinen, niedrigen Raum auf einer Eckbank und tranken selbst gebrannten Wodka aus Wassergläsern. Radebrechend in Deutsch und Russisch erfuhren wir folgende Geschichte:
Unsere Gastgeber rechneten sich zu den Russlanddeutschen. Die Familie hatte unter Stalin viel zu leiden gehabt. Dennoch hatten sie die deutsche Invasion im Zweiten Weltkrieg mit gemischten Gefühlen beobachtet. Dann kamen die vernichtenden Niederlagen der Eroberer, der chaotische Rückzug. Eines Tages war ein Mann in grauer Uniform vor ihrer Tür zusammengebrochen, und sie hatten ihn um Christi Barmherzigkeit aufgehoben und ins Haus getragen. Das war damals gefährlich gewesen, denn auf Kollaboration mit dem Feind stand der Tod, und gerade den Russlanddeutschen misstraute die Obrigkeit. Außer einer alten Frau war keiner der Leute, die uns davon erzählten, dabei gewesen. Aber den Vorfall hatte man in der Familie immer wieder besprochen, so dass auch die Jungen gut informiert waren.
Der Verwundete hatte einen Bauchschuss gehabt und war bald darauf gestorben. Sie hatten ihn in der Nacht begraben. Die Adresse meiner Großmutter war auf einem Briefumschlag gestanden, den sie in der Brusttasche des Toten gefunden hatten. Sie hatten ihn sorgfältig aufgehoben. Durch all die Jahre war es ihr Plan gewesen, sich in Deutschland zu melden; aber die Angst vor den sowjetischen Behörden hatte sie jahrzehntelang zurückgehalten. Nun, nach der großen Wende, hatten sie ihr Vorhaben endlich verwirklichen können. Eines Tages, so erklärten sie stolz, würden sie alle nach Deutschland, ihrer wahren Heimat, kommen. Dann würden wir dort zusammen Wodka trinken und wären Landsleute.
Später führten sie uns zu einem Hügel, der mit einem Kreuz geschmückt war. Das Holz war frisch geschnitten und zusammen genagelt. Ich stand lange davor und versuchte, eine geistige Verbindung zu dem mir fremden Mann unter der Erde aufzunehmen, aber es gelang mir nicht. Später saßen wir wieder in der Stube und tranken wieder Wodka. Ich bedankte mich für die Menschlichkeit, die man einem fremden Soldaten erwiesen hatte. Die Familie wäre schließlich bis auf die letzte Seele ausgerottet worden, wenn die barmherzige Tat bekannt geworden wäre.
Wir wollten schon gehen, als die alte Frau aufstand und uns zu verstehen gab, sie habe noch etwas für uns. Sie brachte einen alten, verstaubten und verschlissenen Wehrmachtstornister. Dies sei das Vermächtnis des toten Soldaten, sagte sie.
Ich bedankte mich überschwänglich, ließ von meiner Barschaft da, was ich entbehren konnte und nahm mir vor, regelmäßig Pakete zu schicken. Dann reisten wir ab. Schon nach wenigen Kilometern hielten wir an und untersuchten den Tornister. Er enthielt ein paar alte, vertrocknete Zigaretten, Unterwäsche, Bilder von meiner Großmutter, meiner Mutter im Alter von zwanzig Jahren zusammen mit mir als Säugling und ein Tagebuch. Ganz unten lag ein großes, sehr dickes Buch. Der Umschlag musste einmal blau gewesen sein, doch war von der Farbe nicht mehr viel zu erkennen. Stattdessen war er übersät mit eingetrockneten Blutspritzern und Brandflecken. Sein Inhalt bestand aus handgeschriebenen Seiten in einer Schrift und Sprache, die wir noch niemals gesehen hatten. Das Material der Seiten kann ich bis heute nicht definieren, doch unstrittig ist ihr hohes Alter.
Nach Deutschland zurückgekehrt suchten wir nach Leuten, die uns den Text übersetzen sollten. Aber wir fanden nicht einmal jemanden, der den Ursprung beziehungsweise den Namen von Schrift und Sprache hätte sagen können. Auch das Tagebuch brachte uns nicht weiter. Zwar war es von großer Aussagekraft, was die Erlebnisse meines Vaters betraf, und ich habe mir vorgenommen, es bei Gelegenheit an anderer Stelle zu veröffentlichen. Aber über das geheimnisvolle Buch erfuhren wir lediglich, dass mein Vater es aus einer uralten, orthodoxen Dorfkirche gerettet hatte, die in Flammen gestanden war. Die Ursachen des Brands und warum er sich in Lebensgefahr begeben hatte, wurden hingegen ausführlich beschrieben.
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